Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Betrachtungen über das » Moderne Regietheater «

Von Thomas Prochazka

Martin Kusejs Versuch über Tosca im Theater an der Wien befeuerte wieder einmal den Streit über die Deutungshoheit bei Opernproduktionen. Dabei scheint die veröffentlichte Meinung immer öfter von jener der öffentlichen zu divergieren. Der Einschnitt der letzten zwei Jahre spie an die Oberfläche, was unterirdisch lang schon schwelte: Unzufriedenheit mit dem sich in den Vordergrund drängenden » Modernen Regietheater «.

II.
Abgesehen davon, daß dieses » Moderne Regietheater « selten modern, sondern meist nur » modisch « ist, scheint mir die Bezeichnung falsch gewählt. Jede dramatische Kunstform bedarf der Darstellung; — selbst die konzertante Aufführung einer Oper. Die Lager scheiden einander bei der Frage, in welchem Maße die (An-)Leitung der Darstellung erfolgen soll — und wer dafür zuständig zeichnet. Im Ende läßt sich die Angelegenheit auf eine prinzipielle Frage reduzieren: Wer sind die Autoren einer Oper? Der Komponist und seine Librettisten — oder auch der Spielleiter?

Sind es erstere, ergeben sich weitere Fragen: Wie weit reichen die Rechte von Komponist und Librettist? Die meisten werden zustimmen, daß sie die Wiedergabe der Noten der Partitur umfassen. Doch wie sieht es mit der genauen Einhaltung aller musikalischen Vortragszeichen aus? Mit der Einhaltung der Angaben von Zeit und Ort der Handlung? Deren Verlauf? Dem in der Partitur niedergelegten Personal des Werkes? Und wenn nicht, warum nicht? Wer entscheidet das, und auf welcher Grundlage?

Die Bieitos, Kušejs, Morabitos und Stones machen kein Hehl aus der Tatsache, daß sie sich den Autoren gleichgestellt sehen: Die Gegenwartskunst des Theaters gewinnt durch Reproduktion, und sei sie noch so vollendet, keine Relevanz. Insofern ist in den Leitungsteams heutiger Opernproduktionen keineswegs der Dirigent als Nachfolger des Komponisten anzusehen. Dessen vitale Funktion als produzierender Künstler, als Theaterschaffender ist im heutigen Musiktheater (auf dessen Spielplänen Uraufführungen die seltene Ausnahme darstellen) an die Regie übergegangen. postulierte Sergio Morabito anläßlich des Symposiums »Das Repertoire-Theater ist tot!« — Es lebe das Repertoire-Theater? an der Wiener Staatsoper. (Dessen für Oktober 2020 angekündigte mediale Aufbereitung auf der Website des Institutes übrigens bis heute auf sich warten läßt.) Dabei ist Morabitos Argumentation nicht schlüssig: Der erste Satz hat mit dem zweiten, der zweite mit dem Rest nichts zu schaffen.

Denn selbstverständlich darf es niemals um Reproduktion, und sei sie noch so vollendet, gehen. Sondern immer darum, das für uns Relevante offenzulegen. Was strahlt herauf ins Hier und Heute? Was vermögen wir den alten Meisterwerken abzulauschen? Wenn uns Puccinis Tosca nichts mehr zu sagen hat, ist die einzig richtige Konsequenz, das Stück von den Bühnen zu verbannen. Denn dann vermag auch Martin Kušejs Bearbeitungsversuch das Werk nicht zu retten.

III.
Sergio Morabito zählt sich offen zu den Bewohnern jenes Kontinents, die in der Oper im Widerspruch zu Conrad L. Osbornes Prinzip der Hierarchie der Interpretation Gleichberechtigung mit den Autoren einfordern. Osbornes Hierarchie unterscheidet zwischen den Autoren (der Komponist und sein Librettist), den » Ersten Interpreten « (der Dirigent und sein Spielleiter), den » Zweiten Interpreten « (die Sänger und Musiker) sowie den » Empfängern « (das Publikum). In der Oper trägt der Dirigent (gleich dem CEO in einem Unternehmen) die Letztverantwortung. Aus der Hierarchie der Interpretation folgt zwingend, daß die Interpretationsebene des Werkes von den Autoren aufgespannt und durch die musikalische und szenische Anweisungen in der Partitur festgelegt wurde. Den Interpreten fällt die Aufgabe zu, das Werk in diesem Rahmen zum Leben zu erwecken. Das für uns Heutige darin Schlummernde an die Oberfläche zu heben; es emotional erlebbar zu machen.

Verlegen Spielvögte die ihnen zur Inszenierung anvertrauten Opern (übrigens ohne nennenswerten öffentlichen Widerstand der Dirigenten) in andere Zeiten und/oder an andere Orte, verlassen sie nicht nur diese Interpretationsebene, sondern zerschlagen auch die Einheit der Werke. Das Problem ist, daß die den großen Werken des Kanons innewohnenden Werte untrennbar mit der Zeit ihrer Entstehung und den damaligen gesellschaftlichen Konventionen verbunden sind. Die Gesellschaftskritik in Verdis La traviata ist in dieser Ausprägung eine des 19. Jahrhunderts. An Aida interessiert das große Tableau im zweiten Akt, entstanden als Konzession an damalige Konventionen, viel weniger als die Konflikte der handelnden Personen. Doch diese sind dieselben wie in Puccinis Tosca, von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica ins Rom von 1800 gekleidet.

IV.
Die Bewohner des anderen Kontinents sind der Ansicht, daß jene Personen, welche das Material erfanden, es als Erste bearbeiteten, mit ihrer Eingebung und ihren Fertigkeiten das Kunstwerk schufen, allein berechtigt sind, die Grenzen dieser Interpretationsebene zu definieren; — und zwar für alle Künstler, die das Kunstwerk produzieren und aufführen wollen. Für die Oper werden diese Grenzen nicht nur durch die Noten bestimmt, sondern — da es sich um ein dramatisches Werk handelt — auch durch die Bedingungen, welche die darzustellende Welt eines Werkes umfaßt. Ohne die Beachtung der essentiellen Beschreibungen durch die Autoren kann es kein Zusammenspiel vom Text (den Noten und Worten) mit einer Aufführung geben. Dabei versteht sich von selbst, daß zwischen dem » Was « und dem » Wie « unterschieden werden muß. Das » Was « verliert seine Gültigkeit nicht. Das » Wie « wurde durch die technischen Möglichkeiten der Entstehungszeit und des -ortes definiert, durch die damals modernen Stile der Darstellung, etc. Eine Anpassung an heute mögliches wird daher niemals auf Widerstand stoßen. In der Regel ist diese Unterscheidung in den meisten Fällen einfach vorzunehmen.

V.
Bleibt festzuhalten, daß der Ozean zwischen diesen zwei Kontinenten für jede Überquerung zu weit und zu tief ist. Prinzipien kennen keine Kompromisse.

VI.
Freilich sind die Bewohner des autoriellen Kontinents nicht alles Idioten, die ihr Handwerk nicht verstehen. Im Gegenteil: Viele zeichnen sich durch Intelligenz und weitgespanntes Wissen aus. Beherrschen das Handwerk, einen Text zu erwecken. (Seltener allerdings: das Werk.) Das fundamentale Mißverständnis der heute als » Regie-Stars « Apostrophierten scheint mir darin zu liegen, an die Vernunft des Publikums, an das Denken appellierende Darstellungen der Stoffe zu versuchen. Der Überfülle an Emotionen entsagend, konzentriert sich ihre » Theaterarbeit « (welch schreckliches Wort!) auf ein Teilthema: — oft festgemacht an einem inspirierenden Bild oder Film. Dabei übersehen die Autorenschaft beanspruchenden Vertreter der Spielleitergilde, daß große Teile des Publikums bar jeden Wissens dieser Inspirationsquellen sind. Und daß die zentralen Werke des Kanons Größeres bereithalten. (Andernfalls wären es keine Meisterwerke.) Daraus folgt, daß jede Beschränkung der behandelten Stoffe auf nur einen Themenkomplex scheitern muß; weil sie zur selben Zeit alle anderen ausblendet.

Vielfach paart sich diese falsch verstandene Autorschaft mit dem Willen zu (gesellschafts-)politischen Aussagen, verkommt in manchen Fällen zur negativen Kritik am Werk selbst: der größte Triumph für den Regisseur und seine Botschaft. Im angelsächsischen Sprachraum finden wir dafür den Ausdruck director’s theater (» Regisseurstheater «); — eine hübsche Bezeichnung, will mir scheinen.

Dabei übersehen (oder ignorieren) die Autorschaft Beanspruchenden zweierlei: Zum ersten, daß die großen Werke des Opernkanons aus dem gesellschaftlichen Verständnis ihrer Entstehungszeit geboren wurden. Verlegungen in andere Zeiten oder an andere Orte bei den Uraufführungen (man denke an La traviata oder Un ballo in maschera) waren fast immer den Forderungen der Zensurbehörden geschuldet. Ihnen wurde — oft nach nervenaufreibenden Kämpfen — nachgegeben, um die neuen Schöpfungen aufführen zu können. Zum zweiten, daß die in diesen Meisterwerken verhandelten Themen auch heute noch Gültigkeit besitzen. Andernfalls wären jene Opern ja keine Meisterwerke. Die Darstellung von Cherubinis Medée als Hausfrau und Scheidungsopfer im Salzburger Land verkennt deren Rolle als Werkzeug der Vorsehung (lies: dem Willen der Götter). Turandot mit Puccini auf dem Theater verkommt zum Selbstfindungs-Trip mit dem Volk als manipulierbarem und manipulierten Beobachter einer Aufführung, anstatt uns große Themen wie Verzicht und Egoismus in ihrer Vielfältigkeit vorzustellen. (Das ist es.)

Schreckliche Wahrheit: Die Idee des Theaters als erzieherische Anstalt scheiterte bereits in der Antike. (Andernfalls hätte es nach den Griechen, spätestens jedoch seit dem Nathan keine Kriege mehr geben dürfen.) Der Mensch ist kein Wesen, das vernunftgetriebenen Überlegungen in größeren Zusammenhängen über längere Zeiträume hinweg folgt: Nicht nur die europäische Geschichte wäre eine andere. Es sind die Gefühle, die uns leiten. Im Alltag ebenso wie im Museum, im Theater, im Ballett oder in der Oper.

VII.
Martin Kušejs Bearbeitung — um, pars pro toto, noch ein wenig bei der Tosca zu verweilen — errichtete Hindernisse vor unseren Augen; — und unseren Ohren. Vor den Ohren, weil gesungener Text geändert wurde. Vor dem Auge, weil wir uns immer wieder mit der Frage nach dem » Warum? « konfrontiert sahen. Doch jeder Impuls an vernunftgetriebenes Verstehen entfremdet uns der Aufführung, rückt das Hören in den Hintergrund. Anstatt Mitfühlender, Mitfiebernder, Komplize der Sänger und Musiker zu sein, werden wir durch unzählige unstimmige Details auf den Posten eines Beobachters zurückgeworfen. Im folgenden beispielhaft ein paar Anstöße:

Warum malt Cavaradossi bei Kušej im Schneesturm? Sollte Leinwand nicht trocken gehalten werden? Wieso findet er das Portrait der Maria Magdalena auf einem Stuhl vor, bringt es (wenn er denn schon im Schneesturm malt) nicht mit? Hält es geschützt? Wieso entledigt sich der Maler in der Kälte auch noch seines Mantels? Wieso singt Scarpia bei seinem Auftritt Un tal bacchano in chiesa!, wenn doch die Bühne keinen Kirchenraum vorstellt?

Dabei stellen sich — das gilt im übrigen für alle Tosca-Produktionen — jede Menge Fragen, folgt man allein Giacosas und Illicas Text. Ein paar seien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) im folgenden angeführt: Wieso ist es verwunderlich, daß Scarpia in der Kapelle der Attavanti einen Fächer der Marquesa findet? Nachdem deren Familie offenbar so reich ist, daß sie eine eigene Kapelle unterhält, ist es doch durchaus vorstellbar, daß die Marquesa bei einem ihrer Besuche ihren Fächer vergaß. Warum versteckt die Marquesa Frauenkleider für ihren Bruder? Wieso singt Tosca in Vissi d’arte davon, daß sie ihren Schmuck der Kirche gespendet hat? Daß sie niemals einer Kreatur etwas zuleide tat?

VIII.
Wenn frisch erworbene Bildung nicht Lapsusse zuläßt, seien mit Referenz zur Tosca folgende Erklärungsversuche mit blasierter Bildung ausgebreitet:

Im Rom um 1800 trugen die Frauen — nicht nur in der Kirche — Schleier. Dies zumeist das erste Ärgernis in den Benois’schen Bühnenbildern der Produktion im Haus am Ring: Wenn die Sängerinnen der Tosca nicht einsehen wollen, daß auch bei ihrem zweiten Besuch in Sant’Andrea Della Valle (neben den obligaten Handschuhen) Schleier zu tragen ist. Weiters: Cesare Angelotti ist kein Unbekannter in Rom. Frauenkleider sollen ihm unerkannt die Flucht ermöglichen, mit verhülltem Gesicht. (Lehrt uns doch unsere Erfahrung, daß der ehemalige Konsul der römischen Republik vor seiner Flucht kaum frische Kleider angelegt noch sich rasiert haben wird.)

Die Antwort auf den Text von Vissi d’arte finden wir im Theaterstück von Victorien Sardou: Demnach wuchs Floria Tosca als Schafhirtin in den Hügeln um Verona auf. Die Benediktinerinnen nahmen sie ins Kloster auf und erzogen sie. Cimarosa hörte Toscas Stimme bei einem Besuch aus dem Chor hervorstechen und erbat vom Papst die Erlaubnis, Floria als Sängerin ausbilden zu lassen. Danach trat Tosca in den führenden Theatern Italiens auf. Im Juni 1800 ist sie im Teatro Argentino in Rom engagiert. In ihrem Wesen bleibt sie allerdings das einfache Bauernmädchen …1 Wer will ihr die Dankbarkeit gegenüber der Kirche übelnehmen, der sie doch alles verdankt, was sie heute ist?

Puccini charakterisiert den Barone Vitellio Scarpia zu Beginn des zweiten Aktes mit einem Tritonus, dem diabolus in musica. Doch des so mächtig scheinenden Polizeichefs Leben steht auf dem Spiel, wenn er versagt, Cesare Angelotti wieder einzufangen. Denn der ehemalige Konsul der kurzlebigen römischen Republik war auf Betreiben Lady Hamiltons eingekerkert worden: Angelotti hatte jene » beschützt «, als sie noch Emma hieß und als Prostituierte in den Vauxhall Gardens Hof hielt.

Und dann wäre da noch (neben vielen anderen Dingen) die Tatsache, daß Puccini für die Gavotte im zweiten Akt Musik seines Bruders Michele verwendete. Nichts besonderes, doch ein hübsches, ins Ohr gehendes Thema, Flöte, Viola und Harfe der Bühnenmusik anvertraut.

IX.
Allein: nutzloses Wissen …

Denn nichts davon darf erforderlich sein oder Vorbedingung, um einer Vorstellung von Puccinis Tosca folgen, am Bühnengeschehen und den Motiven der Personen Anteil nehmen zu können. Die Kenntnis der Beschreibung im Opernführer muß für eine Erstbegegnung ausreichen; — selbst dann, wenn wir der gesungenen Sprache nicht kundig sind. Die Musik, der Gesang (lies: das Spiel der Sänger mit ihren Stimmen), Kostüme, Bühnenbild und Beleuchtung bilden im besten Fall eine Einheit. Lassen uns emotional an den Schicksalen der Figuren teilnehmen. (Es steht außer Frage, daß das Erlebnis durch die Kenntnis der Sprache, in welcher gesungen wird, oder die vorherige Lektüre des Librettos gewinnt.)

Doch gleiches gilt für die szenische Umsetzung: Sind für das Verständnis einer Produktion vorab die Lektüre der Ideen und Gedanken des Spielvogtes vonnöten, hat jener seine Aufgabe ebenso verfehlt wie der Intendant, der ihm die Produktion anvertraute. Was als Offenheit oder » Freiheit der Kunst « beworben wird, ist in Wahrheit allzu oft direktoriale Unwissenheit, Desinteresse oder die Angst vor dem Aufschrei des Feuilletons.

Vergißt es sich wirklich so leicht, daß effektiver, großstimmiger Operngesang hoher Konzentration und der Direktion aller Energie eines Sängers auf die oft unterschätzten physischen Vorgänge bedarf? Daß diese Anforderungen jenen an Tänzer oder Athleten vergleichbar sind? (Denn im besten Fall verschmelzen beim Studium einer Partie Musik, Text und die körperlichen Anforderungen zu einem Ganzen, abrufbar, wenn die Musik einsetzt, wenn sich der Vorhang hebt.)

Aus jedem Stoff kann ich nach Wunsch jedes heraus geheimnissen.

Alfred Kerr (1867 – 1948)

Diese Einheit, dieses Zusammenwirken ist auf der Bühne ebenso notwendig wie im Leben: Wir mißtrauen Verhalten, das uns Widersprüche zwischen Gesten und der Sprache erkennen läßt. Es erscheint uns nicht stimmig. Gleiches widerfährt dem Sänger, der von einer Angelegenheit singt, aber dieser entgegengesetzte Aktionen ausführen soll. Die daraus entstehende Dis-Integration findet auf mehreren Ebenen statt: erstens beim Sänger, der das Hauptaugenmerk auf seine Handlungen legen muß und darüber dem Singen nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen kann. Zweitens beim Publikum, welches solche Unstimmigkeiten instinktiv wahrnimmt und von einem empathischen in einen analytischen Modus wechselt. Aus Beteiligten werden (zweifelnde) Beobachter.

Osborne vermutet sogar, daß sich die der » Postmoderne « verpflichtet fühlenden Regisseure überlegen dünken. Für uns anderen, Zurückgebliebenen, die wir im Falle der Oper die Handlung, die Charaktere und das Drama erleben wollen, haben sie nur Verachtung übrig.2 Hin und wieder überschwemmt solche Überlegenheit, in Formulierungslust gewandet, sogar die Ruinen dessen, was die Presse ehedem stolz als » Feuilleton « präsentierte. (Oder die Kommentarspalten im einen oder anderen Klassikforum.) Doch was ist davon zu halten, wenn sich der Großteil der — zahlenmäßig ohnehin kleinen — diversen Masse, die wir Opernpublikum nennen, für das ausspricht, was die Postmodernisten in ihren Arbeiten rundheraus ablehnen?

X.
Aus jedem Stoff kann ich nach Wunsch jedes heraus geheimnissen, bemerkte Alfred Kerr bereits 1917. Doch die überwiegende Mehrheit der Opernbesucher scheint weniger an der Psychologie, an der Analyse der Stoffe interessiert zu sein als daran, ins Ohr gehende Musik (was immer man darunter verstehen mag) und große Stimmen zu hören, das Drama zu erleben. Sich emotional fesseln zu lassen. Für ein paar Stunden im Angesicht beeindruckender Stimmen, Bühnenbilder und Kostüme dem als immer beschwerlicher empfundenen Alltag zu entfliehen. Man mag solches bedauern, doch: Sollen von der Öffentlichkeit finanzierte Opernhäuser vor leeren Rängen spielen? Soll ein Großteil der Karten mit großem Abschlag abgegeben werden, um die Häuser zu füllen?

XI.
Ich warne vor dem Irrtum, die Pandemie sei der Grund für den aktuell schwachen Besuch von den vollen Kartenpreis entrichtenden Besuchern in unseren Opernhäusern. Man argumentiere nicht mit der » Auslastung «, sondern lege die täglichen Kassenreporte vor. Aus ihnen wird rasch abzulesen sein, wieviel die tatsächlichen unter den maximal erlösbaren Einnahmen liegen.

Die Pandemie scheint mir nicht der Grund, sondern der Anlaß für größere Teile des Publikums, fortan mit seinen Geldbeuteln abzustimmen. Im Bewußtwerden des schon länger schwelenden Unbehagens darüber, was viele Intendanten ihm vorzusetzen gesonnen waren (bzw. sind). Wer heute noch mit vorgeblich » modernem Regietheater « dauerhaft Publikum zu gewinnen sucht, verkennt die längst sichtbaren Zeichen an der Wand. Hat vergessen, daß Oper Theater durch Gesang ist: Spiel durch Gesang, Gesang als Spiel. Keine Opernhandlung kann Befriedigung bringen, ohne den Gesang selbst in den Mittelpunkt zu stellen und ihm volle Freiheit zu gewähren. Vor kurzem las ich, man sollte auf den Bühnen zeigen, was das Publikum sehen will, um es wieder in die Theater zu locken.
Ein für die Profiteure des Systems » Regisseurstheater « wohl abwegiger Gedanke.

  1. Julian Budden: “Puccini. His Life and Works”. Oxford University Press Inc., New York, N. Y., 2002, ISBN 978-0-19-517974-3, S. 181 ff
  2. Conrad L. Osborne: “Opera as Opera. The State of the Art”. Proposito Press, New York, N. Y., 2018, ISBN 978-0-9994366-0-8, S. 563 ff

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