»Turandot«, 2. Akt: Lise Lindstrom (Turandot), Anita Hartig (Liù) und der Staatsopernchor als interessiertes Publikum © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Turandot«, 2. Akt: Lise Lindstrom (Turandot), Anita Hartig (Liù) und der Staatsopernchor als interessiertes Publikum

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giacomo Puccini: »Turandot«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Österreich, 28. April 2016: Der burgenländische Landeshauptmann klärt in einem Interview mit dem ORF-Radio die Bevölkerung über sein Demokratieverständnis auf: Daß nämlich sich das in der Verfassung verankerte, freie Mandat eines Abgeordneten dem Willen der Partei zu beugen habe.

Staatsoperndirektor Dominique Meyer stellt auf der Feier nach der mit gemischten Reaktionen aufgenommenen Turandot-Première fest: »Es ist sehr schwierig, daß man in der Anzahl von 2.300 Personen nicht ein paar Idioten hat.« Und Marco Arturo Marelli präsentiert seine Sichtweise auf ebendiese, Puccinis letzte Oper: das Volk als manipulierbarer und manipulierter, jedoch immer vorgeführter Zuschauer.

Hin und wieder führt das Leben die beste Regie.

II.
Marelli zeigt das Volk Pekings als Theaterbesucher unserer Tage in einem zweiten, dem Bühnentor zugewandten Zuschauerraum. Auf der sich zwischen diesem Zuschauerraum und dem Orchestergraben aufgebauten Bühne läuft die Geschichte um die gottgleiche Prinzessin Turandot und den sie umwerbenden Prinzen Calaf ab. Es mag noch so viel applaudiert, gestikuliert und gewütet werden: Die handelnden Personen auf der Bühnenbühne kümmern sich nicht um die Reaktionen aus dem zweiten Auditorium. Die Mächtigen bleiben unter sich.

Diese Inszenierungsidee — es wird die einzige nachvollziehbare bleiben an diesem an Längen nicht armen Abend — vermag Marco Arturo Marelli sogar in den dritten Akt zu retten, wenn sich das Volk unter Androhung von Repressalien geschlossen gegen Calaf bzw. dessen Vater Timur und seine Sklavin Liù wendet. Ähnlichkeiten mit der Welt vor dem Opernhaus sind rein zufällig…

Die Huldigungschöre an den mit sehr (zu?) gebrechlicher Stimme deklamierenden Kaiser Altoum des Heinz Zednik klingen umso hohler, je mehr musikalischen Pathos sie enthalten. Marelli stellt Altoum als sich längst überlebt habenden Greis dar: Hinfällig im Rollstuhl sitzend, hinterfragt er den in Asien üblichen, unbedingten Respekt gegenüber dem Alter. Die Hinfälligkeit der Mächtigen wird Thema.

Auch folgsam geschwenkte, gelbe Fähnchen des Bühnenpublikums ändern daran nichts. Mögen nach dem Fallen des Schlußvorhanges auch Turandot und Calaf die neuen Herrscher werden: Das Volk bleibt manipulierter und manipulierbarer Zuseher. Und die Mächtigen unter sich.

III.
Marellis Inszenierung ist nicht frei von modischem Firlefanz: Da muß Yusif Eyvazov als Calaf zu Beginn des ersten Aufzuges Giacomo Puccini mimen, nur um sich binnen Minuten in den Prinzen Calaf zu verwandeln. Diese Vorgehensweise erschloß sich schon im zweiten, für die Bregenzer Festspiele im Sommer 2015 erarbeiteten »Aufguß« der Grazer Inszenierung vom Frühjahr 2014 nicht. Weshalb also die Repetition?

Auch der sein Leben verwirkt habende persische Prinz darf nicht stolz zum Schafott schreiten. Er wird öffentlich gedemütigt und wie ein Verbrecher vorgeführt. Marelli kündigt den vereinbarten Vertrag auf: Lösung der Rätsel im Tausch gegen Turandots Hand. Der Spielleiter unterstellt damit dem Kaiserreich eine von Willkür geprägte Handlungsweise, welche den in der Partitur notierten Intentionen zuwiderläuft.

IV.
In der ersten Szene des zweiten Aktes werden der Hofkanzler Ping, der Oberhofmeister Pang und der Hofküchenmeister Pong als subalterne Schreibtischkräfte portraitiert. Das nimmt den Figuren — allesamt oberste Würdenträger des Reichs — ihre Größe. Und es eliminiert die Frage nach der Einsamkeit der Mächtigen, deren Zerissenheit zwischen ausgeübter Macht und dem bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Kaiser. Eine verschenkte Szene.

Leider läßt auch der gesangliche Teil Wünsche offen: Gabriel Bermùdez vermochte in der Rolle des Hofkanzlers Ping nicht zu überzeugen. Seine Stimme klang den ganzen Abend hindurch trocken und flach, auf die sehnsuchtsvollen Kantilenen wartete man vergebens. Carlos Osuna war als Pang aufgeboten und mühte sich nach Kräften. Einfacher hatte es da Norbert Ernst in der Partie des Hofküchenmeisters Pong — eine tadellose Leistung.

V.
Selbstredend warteten des Werkes kundige Opernfreunde vergeblich auf den Auftritt der Mandarine und die weiß-gelben Standarten. Und für mehr als drei Weise bot die linker Hand von einem blauen, mit gelben chinesischen Drachen bemalten Vorhang begrenzte Bühnenbühne keinen Platz. Dafür erfreute der Bühnenbildner Marelli als Spielleiter das Publikum auf und vor der Bühne mit circensischen Einlagen. Auch ein weißer Clown durfte auftreten. Warum? Ich weiß es nicht.

VI.
Dan Paul Dumitrescu sang den entthronten Tartarenkönig Timur als Stichwortgeber für die ihn begleitende Sklavin Liù. Er tat dies in gewohnt manierlicher Qualität, wenn auch dem Spielleiter nicht allzu viel zu dieser Figur eingefallen war. 

Die Seele des Abends war — Anita Hartig als Liù. Ihre vor allem aus dem Gesang erwachsende Interpretation bildete den Höhepunkt: Mit sicherer, gut geführter Stimme, ohne Probleme bis zum hohen B kletternd, berührte sie schon in ihrer ersten Arie »Signore, ascolta!«. Ein weiterer Höhepunkt: Liùs Liebestod. Im mittleren und oberen Register mischte sich allerdings mit Fortdauer des Abends ein metallischer Klang: Die Liù dürfte für Anita Hartig eine Grenzpartie sein. Ich hoffe, die Sängerin zieht die richtigen Schlüsse, um noch einige Jahre erfolgreich eine Mimì oder Violetta singen zu können. Leider blieb Anita Hartig gestern die einzige Vertreterin jener Gesangskultur, welche heute im Opernalltag so selten geworden ist.

VII.
Yusif Eyvazov war nach der krankheitsbedingten Absage Johan Bothas als Prinz Calaf eingesprungen. Der aus Baku stammende Tenor wartete mit einer rauhen und breit geführten Stimme auf. Im passagio waren immer wieder Probleme zu konstatieren. Überhaupt war da sehr viel Kraft im Spiel — auch an jenen Stellen, wo der Premièren-Sänger der vorhergehenden Produktion das Publikum mit kultiviertem Legato zu begeistern vermochte.

Ein Beispiel: In »Non piangere, Liù« reiht sich Legato-Bogen an Legato-Bogen. Zu hören war das ebensowenig wie die Beachtung der Dynamikzeichen: Puccini notierte diese Ges-Dur-Arie fast ausschließlich im piano. Auch die Rätselszene, andernorts der Höhepunkt des Abends, präsentierte sich arm an gesanglicher Raffinesse; — erfolgreich angesteuerte Spitzentöne hin oder her.

Allerdings gönnte Marco Arturo Marelli der Figur des Calaf auch keine Entwicklung: Erst für die Schlußszene durfte Calaf seinen Anzug mit einem Cutaway tauschen. Turandot zeigte sich dem Volk im weißen, bodenlangen Abendkleid. Beide nahmen an einem Tisch auf der Bühnenbühne Platz. Die vorgebliche Verbrüderung mit dem Volk fand nicht statt.

Die Mächtigen bleiben weiter unter sich.

VIII.
Jede Sängerin der Turandot hat gegen drei Mächte zu kämpfen: gegen die Nilsson, den Regisseur und gegen den Dirigenten. (So ist, genau, die Reihenfolge.)

Lise Lindstrom unterliegt allen dreien.

Anstatt, wie von Giuseppe Adami und Renato Simoni ersonnen, als gottgleiche Herrscherin mit jeder Menge Gefolge zu erscheinen, muß sie in Marco Arturo Marellis Spielleitung allein auf einem Podest von links auf die Bühne fahren. Während »In questa Reggia« rüstet sie sich mit dem Mantel und der Krone ihrer Vorfahrin Lou-Ling. Leichenfledderei. Während Calaf ein Rätsel nach dem anderen löst, muß Turandot diese Insignien der Macht bis auf ein rotes Abendkleid abgeben. Warum? Ich weiß es nicht.

Im dritten Akt ist Turandot nach des Spielleiters Sichtweise auf das Werk der aktive Teil. Sie gibt Calaf den Kuß und befreit ihn von seinen Fesseln. Wen kümmert es, daß Partitur und Musik anderes vorgeben?

Leider findet Lise Lindstrom auch in Gustavo Dudamel, der mit dieser Neuproduktion sein Debut an der Wiener Staatsoper beging, keinen Mitstreiter: Da rauschte das Orchester auf, wo piano und mezzoforte in der Partitur stehen. Da herrschte, angefeuert vom Dirigenten, im Graben wenig Einsicht, daß die Partie der Turandot für die besten Sopranistinnen eine Herausforderung darstellt und sie der Unterstützung vom Pult aus bedarf.

Immerhin notierte Puccini große Abschnitte von »In questa Reggia« im piano (mit gelegentlichen Ausbrüchen ins forte). Der Komponist sparte auch nicht an Legato-Bögen — obwohl selbst bei deren Fehlen der italienischen Tradition nach die Stimme wenn irgend möglich legato geführt werden soll. All das hätte man gerne von Lise Lindstrom gehört — viel öfter, als diese zu liefern gesonnen war. 

Zu hören bekam der interessierte Opernfreund eine Stimme, welche deutliche Zeichen der Überforderung zeigte: Ein relativ großes Vibrato paarte sich den Abend hindurch immer wieder mit wechselndem Stimmsitz — und ebenfalls viel Kraftaufwand (und damit größerer Lautstärke), um die Stimme zu stabilisieren.

IX.
Auch zwischen Chor und Orchester gab es — in der immerhin dritten Vorstellung — immer noch Abstimmungsprobleme. Zum Großteil muß man diese Gustavo Dudamel anlasten, der die Partitur in einem Tempo durchmaß, welches den Sängern keine Ausschwingen der Phrasen erlaubte. Der »Mondchor« beispielsweise wollte lange nicht so einschmeichelnd klingen, wie man ihn doch in Erinnerung hat. Und aus dem Graben tönte es über weite Strecken zu laut und (auch) grob. Ein erfolgreiches Dirigenten-Debut klingt jedenfalls anders.

Daß ein Großteil des Publikums jubelt, wenn es möglichst laut zugeht: Ich will es ihm nicht verargen. Aber manchmal ist es an der Zeit, sich zur Minderheit zu bekennen.

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