Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Das große Missverständnis, oder:
Castorfs »Faust«

Von Thomas Prochazka

Es könnte auch »Serebrennikovs Parsifal« heißen. Oder: »Stones La traviata«. Oder: »Koskys Der Rosenkavalier«. Das Thema bliebe dasselbe: Den Sängern, Musikern und Dirigenten, die diese Opern allabendlich zum Leben erwecken, gilt schon seit längerem nicht mehr die erste Aufmerksamkeit. Sondern jenen, welchen Intendanten seit Jahrzehnten Rechte einräumen, die ihnen nicht zukommen.

II.
Wer sind die Autoren einer Oper?

Der Textdichter — oder der Librettist? Gewiß. Der Komponist? Nun ja, der wohl auch… Ihre gemeinsame Arbeit, ihre Schaffenskraft bringt das Neue hervor.

Michel Carré, dessen Faust et Marguerite Charles Gounod 1850 am Théâtre du Gymnase gesehen und auf dessen Text er bereits einige Piècen komponiert hatte, konnte erst nach einigem Widerstreben zur Zusammenarbeit mit dem Librettisten Jules Barbier gewonnen werden. Gemeinsam schufen sie aus Johann Wolfgang von Goethes Faust in der bewußten Weglassung von Szenen und Personen und der Dichtung von sangbarem Text das Libretto. Darauf aufbauend, damit arbeitend, immer noch da und dort modellierend, komponierte Gounod die Musik. Verwendete frühe Skizzen von seiner Italien- und Deutschlandreise, änderte, verwarf. Gleichviel — es entstand etwas Neues. Carré, Barbier und Gounod schufen ein ›Werk‹. Etwas, das es vorher nicht gab.

Carré, Barbier und Gounod sind daher Autoren — Schaffende.

III.
Das ›Werk‹ existiert nur im Rahmen einer Aufführung. Den Text kann man lesen. Die Musik spielen oder a capella singen. Doch das ist nicht dasselbe. Um die von seinen Autoren intendierte Wirkung zu entfalten, bedarf das ›Werk‹ der Aufführung — der Interpretation.

Die Konzeption eines ›Werkes‹ spannt die zulässige Ebene seiner Interpretation auf. Diese legt (unter anderem) Dinge fest wie die Zahl der beteiligten Sänger und ihre Stimmfächer; oder den Umfang des benötigten Orchesterapparates. Aber — doch auf diesem Feld gellen uns bereits die überschnappenden Schreie der Regietheater-Lobbyisten entgegen — auch Ort und Zeit der Handlung. Das »Esultate« des Otello erscheint uns in einer in einer Oase angesiedelten Produktion ebenso lächerlich wie der Rekrutierungsaufruf eines König Heinrich in einem bayerischen Wirtshaus des 21. Jahrhunderts wider den mittelbaren Nachbarn: das EU-Mitgliedsland Ungarn. Mit dem Verweis auf das Auftreten von Heinrich der Vogler legte Wagner den Zeitraum, zu dem seine Oper spielt, eindeutig fest. (Obwohl die Ungarn vier Jahrhunderte später immer noch als Feinde gegen das Habsburgerreich anrannten.)

IV.
Was passiert mit dem ›Werk‹ an unseren Opernhäusern? Sänger und Instrumentalisten, alle ausgestattet mit dem ›Werk‹, also demselben vollständigen (Noten-)Text inklusive den zusätzlichen Anweisungen der Autoren betreffend die Orte und die Zeiten des Geschehens, der Auf- und Abtritte der im ›Werk‹ vorkommenden Figuren, finden für eine Aufführung zusammen.

Im Laufe der Jahrhunderte verständigte man sich darauf, die Koordination zwischen den Sängern und den Musikern einem Ersten leitenden Interpreten zu übertragen: dem Dirigenten. Ihm obliegt die Aufgabe, ein gemeinsames Verständnis aller an der Aufführung des ›Werkes‹ Beteiligten darüber herzustellen: wie leise piano und wie schnell Allegro brillantissimo sein sollen. Die Auslagerung der musikalischen Koordination hilft Musikern und Sängern, sich auf ihre Stimmen bzw. Rollen zu konzentrieren und durch die Befolgung der im ›Werk‹ niedergelegten Texte sowie Handlungs- und Spielanweisungen ihre Partien besser zu durchdringen.

V.
Gleiches gilt für die Koordination der Szene: Angefangen mit der Festlegung der Auf- und Abtritte, vermag eine ordnende Hand, versehen mit dem Wissen um die Unterstreichung des gesungenen Wortes mit Gesten und der optimalen Positionierung der Sänger im Bühnenbild im Zusammenwirken mit ihren Kostümen und der Beleuchtung, die Glaubwürdigkeit des ›Werkes‹ weiter zu erhöhen. Dieser Zweite leitende Interpret ist der Spielleiter — der Regisseur.

VI.
Und das Publikum? Es ist der Empfänger. Interpret — ist es nicht, auch wenn jene Regisseure, die sich durch das Verlassen der von einem ›Werk‹ aufgespannten Interpretationsebene denn doch Autorenrechte anmaßen, ihm diese Doppelrolle als zweiter Interpret und Empfänger zuweisen.

VII.
Dennoch lesen Opernfreunde immer wieder in den Berichten und den Klassik-Foren rund um den Globus von »Serebrennikovs Parsifal«, »Neuenfels’ Entführung aus dem Serail« und »Castorfs Faust«. »Opera fans« diskutieren tagelang und selten zimperlich im zwischen­menschlichen Umgang miteinander in der vermeintlichen Durchsetzung ihrer Meinung über die szenischen Umgestaltungen der Werke. Da wird von einer Minderheit jener Minderheit, die Opernvorstellungen besucht, erwogen, was denn die Bedeutung jener und dieser Bewegung gewesen sein könne und mit welchem (musikalischen) Thema sich die eine oder andere den Sängern vom jeweiligen Spielvogt auferlegte Aktion begründen ließe.

Die ernsthafte Beantwortung der Frage, ob Frank Castorfs Transformation der Oper Faust in das Paris zur Zeit des Algerienkrieges durch die von diesem ›Werk‹ aufgespannte Inter­preta­tions­ebene noch gedeckt ist — wenn ja, wodurch? Wenn nein, warum nicht? — unterbleibt trotz des in diesen Zirkeln durchaus vorhandenen, wertvollen Fachwissens leider ebenso wie in den als Rezensionen getarnten, leichthin hingefloskelten Kommentaren der Mitglieder des Feuilletons.

VIII.
Sollten wir, die dieser Kunstform Verfallenen, nicht kurz innehalten? Uns entsinnen, daß der Parsifal ein Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner, Die Entführung aus dem Serail ein deutsches Singspiel aus der Feder des Wolfgang Amadé Mozart und der auf den Opern­bühnen gezeigte Faust eine Oper in fünf Akten von Charles Gounod sind? Von ihren Schöpfern nie als etwas anderes betrachtet wurden?

Und: Wäre es dann nicht an der Zeit, in den Rezensionen und den Foren der Diskussion der musikalischen Seite der Aufführungen wieder erheblich mehr Raum zu widmen?

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