»Die Entführung aus dem Serail«, 2. Akt: Regula Mühlemann (Blonde) und Goran Jurić (Osmin) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Entführung aus dem Serail«, 2. Akt: Regula Mühlemann (Blonde) und Goran Jurić (Osmin)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Wolfgang Amadeus Mozart:
»Die Entführung aus dem Serail«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Betrachtungen über einen Versuch, an der Wiener Staatsoper mit deutschem »Regie-Theater« zu reüssieren.

II.
»Die Gegenwartskunst des Theaters gewinnt durch Reproduktion, und sei sie noch so vollendet, keine Relevanz. Insofern ist in den Leitungsteams heutiger Produktionen keineswegs der Dirigent als Nachfolger des Komponisten anzusehen. Dessen vitale Funktion als produzierender Künstler, als Theaterschaffender[,] ist im heutigen Musiktheater (auf dessen Spielplänen kaum mehr Uraufführungen stehen) an die Regie übergegangen.« So Sergio Morabito, Chef-Dramaturg der Staatsoper, anläßlich des Symposiums »Das Repertoiretheater ist tot!« — Es lebe das Repertoiretheater?1 

Die Première der 22 Jahre alten Inszenierung, von Hans Neuenfels einst für Stuttgart geschaffen, kam da als Testobjekt gerade recht. Dies nicht zuletzt, da Antonello Manacorda sich bedingungslos unterzuordnen schien. Der Italiener setzte kaum eigene Akzente; hemmte den musikalischen Fluß immer wieder durch Generalpausen, als müßten sich die Figuren auf der Bühne ihrer Absichten erst innewerden. Das Staatsopernorchester folgte willig. Trog mein Eindruck, daß man mit Fortdauer des Abends im Graben immer mehr darauf bedacht schien, vor allem den eigenen Ruf zu retten?

III.
Hans Neuenfels weiß durchaus poetisch über Mozart zu schreiben. Ich glaube ihm seine Liebe zu, seine Besessenheit von Mozart. Ich glaube ihm auch seine ursprüngliche Begründung2, den Sängern ob ihrer Schwächen bei gesprochenem Text Schauspieler zur Seite zu stellen: Belmonte, der Sänger, singt; Belmonte, der Schauspieler, spricht.

Aller Worthülsen entkleidet, leistete Neuenfels damit — bewußt oder unbewußt — den Offenbarungseid der Gesangskunst unserer Tage: Denn selbstverständlich muß ein ausgebildeter Opernsänger auch deklamierend sprechen können. (Man glaube nicht mir. Man befrage die »Alten«.)
Sei‘s drum.

Doch Neuenfels, der Mozart-Verehrer, ist ohne Neuenfels, den Provokateur, nicht denkbar. Daher gibt es auch einen neuen Neuenfels-Text. (Und die Tantiemen.) Den mag, wer längere Zeit in Deutschland lebt(e), lustig finden. Man glaube mir: Für den Rest der Welt ist er es nicht. Und so keimte noch in der ersten Hälfte des Abends immer stärker der Wunsch, die Neuenfels-Banalitäten mit jenen von Johann Gottlieb Stephanie dem Jüngeren eintauschen zu dürfen. (Dann haftete dem Singspiel wenigstens etwas Originales an.)

»Die Entführung aus dem Serail«, 1. Akt: Christian Natter (Belmonte – Schauspieler), Daniel Behle (Belmonte), Michael Laurenz (Pedrillo) und Ludwig Blochberger (Pedrillo – Schauspieler) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Entführung aus dem Serail«, 1. Akt: Christian Natter (Belmonte – Schauspieler), Daniel Behle (Belmonte), Michael Laurenz (Pedrillo) und Ludwig Blochberger (Pedrillo – Schauspieler)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Als Christian Nickel, der Darsteller des Bassa Selim, nach dem Verklingen des letzten Taktes vortrat, um ein Gedicht von Eduard Friedrich Mörike vorzutragen, war der Abend schon längst in seine Einzelteile zerbröselt. Hatte sich Langeweile breitgemacht. Nickel war ein eindimensionaler Bassa Selim gewesen. Keine Zwischentöne. Grob. Ob Mozart und Stephanie dies im Sinne hatten?

Dabei stellte sich die Sache nicht so vor, als ob man nicht gearbeitet hätte; hart gearbeitet hätte. An der Präzision beispielsweise, mit der der Abend ablief. Doch wozu? Die Schauspieler-Alter Egos — Konstanze: Emanuela von Frankenberg, Blonde: Stella Roberts, Belmonte: Christian Natter, Pedrillo: Ludwig Blochberger, Osmin: Andreas Grötzinger — klangen in ihrem Vortrag nur unwesentlich intensiver als ihre Sängerkollegen.

Wozu also die Dopplung der Figuren? Irgendwelcher »innerer Konflikte« wegen, die doch niemanden interessieren in einem Singspiel, das für die breite Masse bestimmt ist? Wozu das doppelte Personal, die zwiefachen Gagen zahlen? Und wie verfahren, wenn einmal ein Sänger kurzfristig ausfällt und ersetzt werden muß?

Wie paßt der Janitscharenchor im ersten Akt mit aufgespießten Köpfen und Babies zur finalen Großmut des türkischen Fürsten? Wie passen die abgeschlagenen Köpfe zu Osmins erster Arie »Wer ein Liebchen hat gefunden«? Und warum findet die Pause nach Konstanzes »Martern aller Arten« statt, anstatt nach einem Aktschluß?
Fragen über Fragen; — und auf die Fragen find’ ich die Antwort nicht.

V.
Musikalisch begann die Vorstellung durchaus schwungvoll. Die Ouverture wußte zu gefallen, die ersten Nummern ebenso. Doch bald schon driftete der Abend ab ins Unverbindliche, Lärmende. Daran hatte manche Inflexibilität des Mannes am Pults ebenso ihren Anteil wie zum Teil erschreckend schwache Gesangsleistungen. Diese erfüllten die Anforderungen der Partien nur bedingt: Goran Jurić fehlt für den Osmin die Tiefe. Eine nett anzuhörende Mittellage und engagiertes Spiel entschuldigen nicht für fehlendes legato, die fehlenden »money notes«, die tiefen ›f‹ und ›d‹. Selbst dann nicht, wenn Antonello Manacorda im Graben streckenweise zu laut spielen läßt. 

Daniel Behle war ein netter Belmonte, Michael Laurenz ein leider nicht mehr als zufriedenstellender Pedrillo. Von beiden hatte ich mir mehr stimmliche Kraft (und damit Präsenz) erwartet; mehr Willen zur gesanglichen Gestaltung; beständigen Gebrauch des legato. Belmontes Arie »O wie ängstlich« macht uns Eindruck ihrer Gegensätze wegen: hie die immer wieder unterbrochenen Phrasen, der von Mozart ins Orchester montierte Herzschlag, da die Koloraturenläufe, welche die gewünschte Wirkung nur entfalten, wenn sie in einem präsentiert werden.

Regula Mühlemann, die Blonde, bot bei weitem die schwächste Leistung: mit soubrettenhaftem, kurzen Ton mühte sie sich durch die Partie. Legato? — Fehlanzeige. Mühlemann erreichte nie jene stimmliche Form, die ein Blondchen haben müßte. Eine einzige Enttäuschung. (Ida, doch niemals Adele.)

»Die Entführung aus dem Serail«, 1. Akt: Lisette Oropesa (Konstanze), Emanuela von Frankenberg (Konstanze – Schauspielerin) und Christian Nickel (Bassa Selim) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Entführung aus dem Serail«, 1. Akt: Lisette Oropesa (Konstanze), Emanuela von Frankenberg (Konstanze – Schauspielerin) und Christian Nickel (Bassa Selim)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VI.
Aber die Konstanze? Immerhin Lisette Oropesa, vielgereist und viel gepriesen; — bei ihrem Debut im Haus am Ring. Oropesa bot die stärkste Leistung des Abends. Ja. Und?

Mozart packte jede Menge gesangstechnischer Schwierigkeiten in die Partie, berichtete dem Vater von der »geläufigen Gurgel der Mademoiselle Cavalieri«, der er die Arie »aufgeopfert« habe. Drei Arien sind es, die Mozart der prima donna in der Entführung aus dem Serail zueignete. »Ach ich liebte, war so glücklich« wird in ihren Schwierigkeiten zumeist unterschätzt. Sie führt die Stimme in den Koloraturen wiederholt bis zum hohen Sopran-›c‹ und -›d‹, verlangt saubere und akkurate Tongebung und gute Einteilung der Kräfte. Gleichviel, die »opera fans« (© Bogdan Roščić) messen die Leistung jeder Konstanze an der Bravour in »Martern aller Arten«.

Nun, Lisette Oropesa gelang eine Wiedergabe, die einige im Publikum zu »Bravo«-Rufen hinriß. Fiel wirklich nur so wenigen die fehlende Kraft ihrer Stimme unterhalb des passaggio auf? Wurden sie dessen nicht gewahr, daß die tiefen Sopran-›cis‹ und -›h‹ allesamt unhörbar blieben? Daß die Läufe durch die Register, die Koloraturen, teilweise verschliffen klangen, sich Oropesas Stimme nicht geschlossen präsentierte? Daß dieser Konstanze Gesang sich in der Höhe »luftig« anhörte (immer auch ein Zeichen gesangs­technischer Mängel)?

VII.
Sind Abende wie dieser die neue Münze, mit der man künftighin am Ring zu zahlen gedenkt?

  1. Sergio Morabito: »Welche Ordnung der Dinge? — Zum Repertoire der Opernbühnen des 17. und 18. Jahrhunderts«. Ein Beitrag zum Symposium »Das Repertoiretheater ist tot!« — Es lebe das Repertoiretheater?, gehalten am 4. September 2020 in der Wiener Staatsoper. (Die Veröffentlichung aller Beiträge auf der Website der Wiener Staatsoper ist für die nächsten Tage angekündigt.)
  2. »Haben Sie sich Ihre Ohrfeigen verdient?« 13 Fragen an Regie-Legende Hans Neuenfels. Bühne, Nr. 2, Oktober 2020, S. 22ff.

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