Charles-François Gounod:
» Roméo et Juliette «
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Nach sieben Jahren holte die Wiener Staatsoper Gounods Roméo et Juliette wieder aus dem Depot. Präsentiert wird Gounods fünfaktige grand opéra in zwei Serien (noch einmal im Mai 2025) in einer 2001 für das Haus am Ring erarbeiteten Fassung.
Wie bereits damals Regisseurs-Theater-Brauch, inszenierte Jürgen Flimm den aus dem antiken Theater als Erzähler ins 19. Jahrhundert geretteten Chor im Prolog, anstatt auf die Kraft von Wort und Ton zu vertrauen. Er ersetzte Stéphanos Pferd durch einen Drahtesel, das originale Verona durch ein heutiges Irgendwo (einst für die Alltagskostüme zuständig: Birgit Hutter) und verließ sich darauf, daß Dirigent und Besetzung sich um den Rest kümmern würden. Was, mit Marcello Viotti am Pult, Stefania Bonfadelli und Neil Shicoff in den Hauptpartien, in der Premièren-Serie ebenso gelang wie Jahre später mit Anna Netrebko und Rolando Villazón, dem Operntraumpaar der 10-er Jahre, beim Stelldichein zum gemeinsamen Liebestod. Danach überzeugten nur mehr einzelne Sänger.
Wäre da nicht Patrick Woodroffes geniale, immer wieder faszinierende und auch den Kitsch bedienende Lichtregie (» Lichtarchitektur « liest man am Abendzettel), man hieße das ganze szenische Unterfangen albern. So aber zaubern Lichtsäulen, Nebel, Kerzen und ein weiß leuchtendes, schwenkbares Halbrund in der Bühnenbodenmitte Räume und Atmosphäre. In der finalen Apotheose werden Roméo und Juliette als Schatten vor diesem Halbrund und einem Sternenhimmel zu den tröstlichen Klängen Gounods ineinander verschmelzen. (Kitsch kann schön sein.)
Der Nachteil dieser Inszenierung aus Licht: Ohne stringente musikalische Leitung, ohne gut disponierten Chor und — vor allem — ohne ein mit der Stimme spielendes Personal läuft sich der Abend vor der Zeit tot.
III.
Maestro Bertrand de Billy sorgte am Pult des Staatsopernorchesters für eine verläßliche musikalische Wiedergabe: kräftig im Vorspiel, doch von mancher Behäbigkeit geprägt der Rest des Abends. Sollte der Chor auf dem Ball der Capulets nicht spritziger klingen, die Musik nicht mehr glitzern? Mir gebrach die Vorstellung an musikalischer Durchdringung, an Eindringlichkeit; — nicht nur, aber auch in den Arien und Duetten. Beliebigkeit, wohin das Ohr lauschte.
Routine zu Saisonbeginn.
IV.
Der Abend brachte viele Rollen-Debuts, doch keines wollte so richtig glücken: Nach Mercutios Ballade de la Reine Mab regte sich keine Hand. Das verwunderte wenig, hatte Maestro de Billy Stefan Astakhov doch zu sehr durch die Nummer gehetzt, als daß letzterer zu irgendeiner musikalisch-szenischen Gestaltung im Stande gewesen wäre. Vom Stéphano der Patricia Nolz hatte ich mir größere stimmliche Präsenz erhofft. Auch in dieser Partie kann eines exzellieren: — doch ist eben nicht immer eine Elīna Garanča in ihren Jugendtagen zur Hand … Der Tybalt von Daniel Jenz schien mir Potential zu besitzen, die Gertrude von Stephanie Houtzeel — eher nicht (mehr).
Wolfgang Bankl war ein immerhin verläßlicher Capulet. Daß er seine Tochter liebt und auf sie stolz ist, war allerdings ohne vorher memorierten Text schwer zu verstehen. Auch zeigte sich hier wieder einmal der Widerspruch zwischen Regieansatz und Libretto: Im Verona des 16. Jahrhunderts mochten die Väter über die Ehen ihrer Töchter entschieden haben. Heute, da derartige Praktiken der Vergangenheit zugehören, muß solcher Gegensatz den mitdenkenden Besucher irritieren.
Dan Paul Dumitrescu, in früheren Jahren ein sympathischer Diener Gottes, kehrte wie schon in der Première zu Le Duc zurück. Dafür sang Peter Kellner zum ersten Mal den Frère Laurent. Für seinen Baßbariton, der mir am besten als Mozarts Figaro zur Geltung zu kommen scheint, liegt die Partie des Kirchenbruders zu tief. Solche Experimente mögen an kleineren Häusern (wie z.B. der Oper Graz, an der Herr Kellner mit großem Erfolg den Lord Sidney sang) schon allein aus Dispositionsgründen notwendig sein. Stetes » Nachdrücken «, um auch die tiefer liegenden Passagen hörbar zu machen, wird, fürchte ich, mit einer zukünftigen, dauerhaften Beschädigung des Instrumentes bezahlt werden müssen. (Die Staatsoper kennt, was dies betrifft, Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart.)
V.
Der albanische Tenor Saimir Pirgu war erstmals als Roméo ans Haus am Ring verpflichtet worden. Wie bei vielen seiner Kollegen zeugte sein Singen nicht nur von Jahren im Geschäft, sondern auch von so manchem Ausflug in ihm eigentlich fremdes Territorium.
Die Spitzentöne waren alle sicher, wenngleich ohne jenen Glanz, der das Erwartbare vom Außergewöhnlichen scheidet. Die obere Mittellage klang immer wieder eng, mit großer Wahrscheinlichkeit die Folge eines ab dem passaggio hoch plazierten Kehlkopfes. Übermäßiger Krafteinsatz behebt derartige Stimmprobleme allerdings nicht. Die Konsequenzen daraus: schwer verständlicher Text sowie Abstriche bei den dynamischen Abstufungen. Darunter litt nicht nur Roméos Arie Ah! lève-toi soleil
im zweiten Akt. Ein-, zweimal wurde ein mezzo voce durch den Wechsel ins falsetto ersetzt. Wann immer die Partie die Durchquerung des passaggio verlangte, nahm die Lautstärke in der oberen Mittellage unvermittelt zu; wahrscheinlich, um die Stimme zu stabilisieren.
Die Darstellung der Figur war OK-ish, doch ohne Höhepunkte. Die stimmliche Eindimensionalität fand im Spiel ihre Fortsetzung: kein schwärmerisches Aufblühen der Liebe zu Juliette, wenig Verzweiflung über den vermeintlichen Tod der Liebsten.
VI.
Nadine Sierra gab an diesem Abend als Juliette ihr Haus-Debut. Sie zählt ebenso wie Lisette Oropesa zu jener (neuen) Generation der in den U.S. ausgebildeten Soprane, welche in den letzten Jahren die europäischen Opernhäuser eroberte. Die stimmliche Disposition beider Stimmen ist ähnlich: Einer flexiblen hohen Oktave mit (noch) sicher gesetzten Spitzentönen gesellt sich eine unzureichend entwickelte und resonanzarme untere bei. Dadurch fehlt diesen Stimmen ihr Zentrum, das Fundament, darauf jede Interpretation aufzubauen wäre. Sie sind Ergebnis einer fast industriell zu nennenden Ausbildung, die jegliche stimmlichen Eigenheiten zu ignorieren scheint und Sänger mit auswechselbarem, generischen Klang produziert. Keine dieser Stimmen — gleichgültig, für wie gut oder schlecht man sie halten mag — verfügt über ein individuelles Timbre: jenes Etwas, das alle Großen auszeichnete.
In Analogie zur Partie der Violetta benötigt jene der Juliette für die Koloraturen im ersten Akt Brillanz in der Stimme, während die nachfolgenden Akte vor allem lyrischen Gesang erfordern. Ah, je veux vivre
muß spritzig und frisch klingen. Die Partitur schreibt als Grundlautstärke piano vor, mit einigen crescendi ins forte. Ms. Sierra bot über weite Strecken ein Einheits-mezzo forte. Das ließ nicht viel Raum für gesangliche Gestaltung. Juliettes — im übrigen wie in Gildas Auftrittarie Caro nome
— immer wieder durch Achtelpausen unterbrochener Gesang drückt ihre Begeisterung aus. Im Mittelteil komponierte Gounod lyrische Phrasen, ehe sich im Finale die Begeisterung über die Präsentation in der Gesellschaft, die Teilnahme am Leben der Erwachsenen, in raschen Läufen Bahn bricht.
Ms. Sierra war eine rollendeckende Juliette, mit guter Stimme und in der Regel ausreichender Kraft (mit der oben geäußerten Einschränkung), doch sang sie immer wieder Phrasen mit weit offenem Mund, formte den Ton dort, anstatt die Vokale im Kehlkopf entstehen zu lassen. Manch hoher Ton geriet schrill und wurde mit viel Kraft attackiert. Bei den Koloraturen in Ah, je veux vivre
wirkten die ersten Töne immer hervorgestoßen und vom Rest des Laufes getrennt, als habe Gounod einen Akzent darauf notiert. Auch sang Ms. Sierra jeden Lauf für sich, nicht, wie z.B. Eidé Norena oder andere Meisterinnen ihres Faches, auf dem Atem, ebenmäßig balanciert.
VII.
Nehmt nur, alles in allem: Repertoire-Niveau im Paletot einer Wiederaufnahme.