» Turandot «, 1. Akt: Jonas Kaufmann (Calaf), Dan Paul Dumitrescu (Timur), Kristina Mkhitaryan (Liù) mit ihren vier Schatten, Chor und Komparserie der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Monika Rittershaus

» Turandot «, 1. Akt: Jonas Kaufmann (Calaf), Dan Paul Dumitrescu (Timur), Kristina Mkhitaryan (Liù) mit ihren vier Schatten, Chor und Komparserie der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Monika Rittershaus

Giacomo Puccini:
» Turandot « (II)

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Jetzt ist es genug — sagte sich diesmal das Publikum und ließ seinen Empfindungen bei der Première freien Lauf. Zu berichten ist vom Scheitern eines Abends, nachdem der Komponist bereits an seinem Werk gescheitert war. (Man soll bei der Wahrheit bleiben.)

II.
Puccinis letzte und unvollendet gebliebene Oper markiert das Ende des E-19, des » erweiterten 19. Jahrhunderts « der Operngeschichte. An seinem Anfang stehen die nach der Gluck’schen Opernreform erst möglich gewordenen letzten Werke Mozarts in ihrer Vorahnung des Säbelrasselns der Französischen Revolution und der napoleonischen Waffengänge, an seinem Ende die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen des Ersten Weltkrieges.

Der Verlag Ricordi bestimmte Franco Alfano (1875 – 1954), Turandot unter Verwendung nachgelassener Skizzen Puccinis zu beenden. Arturo Toscanini, jahrelanger Freund-Feind des Komponisten, forderte von Alfano zahlreiche Kürzungen und amputierte dessen, mit eigenem motivischen Material angereicherte Arbeit. Am Ende stand jene Fassung, welche heute als die gebräuchlichste gilt und auch als » Alfano II « bezeichnet wird.

Im Programmheft zur aktuellen Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper ließ es sich Konrad Kühn angelegen sein, die Entscheidung für die Fassung » Alfano I « ausgiebig zu bewerben. Das funktioniert — bis man diese Fassung auf der Bühne sieht und hört. Denn Alfanos Komposition erreicht in keiner Wendung das Niveau des Mannes aus Lucca. Wenn also schon eine zweitklassige Komposition Puccinis Werk beschließen soll: Warum dann nicht die Angelegenheit kürzestmöglich zu Ende bringen (selbst um den Preis dramatischer Unglaubwürdigkeit)? Oder gar — wie Toscanini bei der Uraufführung — die Oper mit Liùs Tod enden lassen?

Franco Alfanos erste Fassung beschert einem Opernhaus zusätzliche Unwägbarkeiten: Sie wird selten aufgeführt, d.h., die Sänger müssen sie erst studieren. Weil ungewohnt, erfordert sie am Ende eines für die Hauptrollensänger ohnehin herausfordernden Abends enorme Konzentration. Eines läuft immer Gefahr, in die jahrelang geübte Fassung » Alfano II « zu fallen. Und schließlich: Was tun im Fall einer kurzfristig notwendigen Umbesetzung?

III.
Puccinis Ringen um Turandot in seinen letzten Lebensmonaten und die nachgelassenen Skizzen offenbaren eine entscheidende Schwäche des Librettos: Die Wandlung der principessa di gelo zur Liebenden ist selbst nach Liùs Selbstmord nach Turandots Reaktion dramaturgisch wie musikalisch nicht begründbar. Die Prinzessin rechtfertigt ihr Verhalten ja mit ihrer Rache an den Mördern Lou-Lings. Die von den prinzlichen Bewerbern zu lösenden Rätsel dienen Turandot als Versicherung gegen ein ähnliches Schicksal. Wie anders sollten wir ihren Ausruf Mai nessun m’avrà! (zu deutsch etwa: Niemand wird mich jemals besitzen!) deuten, nachdem Calaf die Prüfungen bestand? Ihre charakterliche Zeichnung durch Giuseppe Adami und Renato Simoni läßt erwarten, daß sie Calaf, nachdem er ihr seinen Namen genannt, dem Henker überantwortet …

IV.
Die Neuproduktion der Wiener Staatsoper ist ein weiteres Beispiel für die Überheblichkeit des Regisseurs-Theaters und seiner Befürworter. Wieder schert man sich in Gestaltung und Darstellung keinen Deut um die in Musik und Wort niedergelegten Vorgaben der Schöpfer. Dazu gesellt sich die irrige Ansicht, die Werke in unsere Zeit übertragen zu müssen; angeblich, um sie einem » heutigen Publikum « (wie auch immer sich das definieren mag) zu erschließen. Mir scheint die — zugegebenermaßen um einiges schwierigere — Aufgabe zu sein, die in den Werken verhandelten Themen für unsere Zeiten bloßzulegen und die Relevanz dieser Themen zur Diskussion zu stellen.

Dazu wäre zum ersten die Sitten und Gebräuche jener Zeiten, in welchen diese Werke spielen, herauszuarbeiten. Demnach wäre, wie des öfteren zu hören und zu lesen war, Calaf nicht jener schäbiger Charakter, als der er allenthalben bezeichnet wird. Man begriffe ihn als den Prinzen, der Liùs Liebe nicht erwidern kann, weil seine gesellschaftliche Stellung eine Verbindung mit der Sklavin unmöglich macht. Als Prinz muß sein Anspruch, sein einzig mögliches Ziel, eine Verbindung mit einer Gleichgestellten, d.h., Turandot, sein.

Wer diese Überwindung von Standesunterschieden für heutige Gesellschaften bestreitet, läuft mit Scheuklappen durch’s Leben. Die Regeln mögen subtiler geworden sein; die Auswirkungen jedoch sind dieselben: Der Adel, die Mächtigen und die Reichen bleiben auch heute noch am liebsten unter sich.

Nein, nein, die Darstellung Liùs als Sklavin dient vor allem dem dramaturgischen Zweck, Calaf möglichst begehrenswert erscheinen zu lassen. Eine Sklavin, ein Mitglied der untersten Stufe der Gesellschaftspyramide, läßt für einen ihr unerreichbaren Prinzen ihr Leben: ein Beispiel für die vordem erwähnten ewig gültigen Themen, über die Generationen von Opernbesuchern nachdenken könnten. Wie uninteressant nimmt sich dagegen Guths Idee aus, uns Turandot als komplexbehaftetes und neurotisches Kindweib vorzustellen?

V.
Claus Guth, von seinen Anhängern, deren einige er » noch nie enttäuscht hat «, wie nicht nur am Premièren-Abend zu erfahren war, als Guru verehrt, verfehlt das Ziel der Bloßlegung dessen, was für uns Heutige relevant ist. Und ebnet mit seiner Umdeutung den Weg für eben jene Nivellierung, welche uns das Werk entfremdet, anstatt es uns näherzubringen.

Einige Besucher und Kritiker wurden nicht müde, des Regie-Gurus Arbeit als eine » hervorragende psychologische Deutung « des Stoffes zu preisen. Wir anderen, die uns derartige Weisheit verwehrt ist (oder ist es die Anbiederung an die Hand, die einen füttert?), wundern uns, wo wir in den Inhaltsangaben der Opernführer oder den Regieanweisungen der Librettisten Adami und Simoni übersahen, daß die Rätselszene des zweiten Aktes in Turandots Schlafzimmer unter Ausschluß des Volkes stattzufinden habe.

Uns erschließt sich auch nicht, warum Liù im ersten Akt mit vier Doubles auftritt. Sollte der Regie-Guru diese als andere Sklavinnen gemeint haben, welchen der Prinz einst ebenfalls zulächelte? Falls ja, wo bleiben diese Doubles im dritten Akt? Müßten sie nicht als Kollektiv mit ihrer singenden Vertreterin Hand an sich selbst legen? Abgesehen davon, daß Romeo Castellucci erst 2021 in seiner sowohl Da Ponte als auch Mozart ignorierenden Version des Don Giovanni Donna Elvira Erinnyen zur Seite stellte: Wo fänden wir die Rechtfertigung solcher Vervielfachung in der Partitur?

Wieso erfand der Regie-Guru für Turandot vier Puppen, welche bis kurz vor Schluß nicht von ihrer Seite weichen, immer wieder einmal mit Messern in den Händen herumfuchteln? Und wieso vier und nicht fünf — oder acht (die Glückszahl)? Weil die Zahl Vier in China als Unglückszahl gilt und ähnlich wie » Tod « ausgesprochen wird? Und selbst wenn: Soll Turandot nicht, anders als Liù, leben?

Wessen Gebeine legen diese Puppen Turandot während In questa Reggia in den Arm, welche sie einer unter Turandots Bett (mit Stahlrohrgestänge) verstauten Truhe entnehmen? Sollten das die Knochen Lou-Lings sein, von welchen der (ausgesperrte) Chor singt, daß sie seit Äonen in ihrem Riesengrab schlummert (Da secoli ella dorme nella sua tomba enorme!)?

Wieso entkleiden sich die Minister Ping, Pang und Pong in ihrer Szene zu Beginn des zweiten Aktes, während sie sich zuerst über das Schicksal des Prinzen unterhalten, ehe sie von ihren Gütern in den Provinzen schwärmen? Wieso mißtraut der Regie-Guru — wie an vielen anderen Stellen an diesem Abend — Puccinis Musik, welche doch im rechten Augenblick eine harmonische, zärtliche Färbung annimmt?

Wieso schlägt Calaf im ersten Akt nicht den — mehrfach im Text angesprochenen — Gong zum Zeichen seiner Bereitschaft, sich der Prüfung zu unterziehen? Wieso pocht er stattdessen dreimal an die Tür zu Turandots Schlafzimmer? Und wieso kommt er eigentlich bis dorthin, wo die Prinzessin doch — so lesen wir’s zumindest im Klavierauszug — mit ihrem Vater unnahbar im Palast am oberen Ende der bis in den Himmel reichenden Treppe lebt? Wieso wird der Freier wie ein Verbrecher gebunden in der Prinzessin Schlafzimmer geführt? Und worin, bitteschön, besteht eigentlich die » konzentrierte, reduzierte Arbeit «, diese angeblich » hervorragende psychologische Deutung «, wenn dieser Calaf bei Non piangere, Liù steif und seltsam unbewegt auf der Bühne steht, völlig auf die gesangliche Bewältigung seiner Partie konzentriert?

Wie » konzentriert, reduziert « soll uns dieser an nichts in der Partitur festzumachende Hokus-Pokus gelten, wo kopflose Prinzen über die Bühne wanken, als bestünden wir, das Publikum, aus lauter tauben Analphabeten? Wo sich uns Turandot zum ersten Mal in der unter Hobby-Psychologen so beliebten 08/15-Kauerstellung in ihrem Bett präsentiert? Wo zu Beginn des dritten Aktes Statisten lesend zu den Nessun dorma!-Rufen des unsichtbaren Chores auf der Bühne hin und wider schreiten, ohne Ziel und, schlimmer noch, ohne erkennbaren Zweck? (Und das nicht einmal im Takt, sodaß man wenigstens an eine Choreographie denken könnte.)

Am Schluß des Abends, als die Lähmung der (viel zu) langen » Alfano I «-Fassung endlich dem D-Dur der alten Kaiserhymne gewichen war, ergriff Turandot Calafs Hand und eilte mit ihm seitlich von der Bühne. — Welch sublimer, köstlicher, alle düpierender Einfall des Regie-Gurus! Und wie schade, daß Jens-Daniel Herzog für Die Meistersinger von Nürnberg im österlichen Salzburg 2019 denselben Gedanken gehabt hatte …

VI.
Als Abschluß des E-19 bietet uns Turandot die Möglichkeit zum Hörvergleich von der Uraufführung an. Die ältesten Aufnahmen entstanden noch im Jahr 1926: Maria Zamboni, die Liù der Uraufführung, mit Signore, ascolta!, sowie Ausschnitte mit den Kräften des Teatro alla Scala unter Ettore Panizza vom 26. November 1926. Aureliano Pertile nahm im Jänner 1927 die Arien des Calaf auf. Von Dame Eva Turner, der vielleicht besten Turandot aller Zeiten, existieren eine Studio-Aufnahme von In questa Reggia aus dem Jahr 1928 sowie zwei Live-Mitschnitte (mit Giovanni Martinelli als Calaf) vom Mai 1937 aus dem Royal Opera House, Covent Garden. Eine gefeierte Brünnhilde und Fidelio-Leonore, wurde die chinesische Prinzessin Turners signature role, die sie über 200-mal sang. 1938 schließlich erfolgte die erste Gesamtaufnahme für die italienische Cetra mit Gina Cigna (Turandot), Francesco Merli (Calaf) und Magda Olivero (Liù) in Turin unter Franco Ghione, ebenso wie Ettore Panizza Assistent Toscaninis am Teatro alla Scala.

Allerdings verstand man damals unter einer » Studio-Aufnahme «, daß Sänger und Orchester (wahrscheinlich bereits elektrisch) eine Arie aufführten und der Ton über Mikrophon auf eine Matrize übertragen wurde. Kam es zu Fehlern, mußte man wiederholen: Ausbesserungsmöglichkeiten gab es nicht. Dieser Umstand macht die verfügbaren Dokumente, z.B. aus dem Mai 1937, so interessant: Sie entstanden quasi live, manchmal sogar während Aufführungen im Opernhaus. Und sie vermitteln uns einen Eindruck von den damaligen Sängerleistungen. Wir wissen also, wie Stimmen damals klangen.

Dame Eva Turner stellte in einem Interview mit Lanfranco Rasponi einmal fest: Für die chinesische Prinzessin braucht man den Biß in der Stimme, eine ganz besondere Weite der Stimme, und wenn man nicht die richtigen Stimmbänder hat, kann einen die Partie ausknocken. Davon, daß es für die Turandot eines bestimmten Stimmfaches bedürfe, sprach sie nicht …

» Turandot «, 2. Akt: Asmik Grigorian als Turandot, die ihr von Claus Guth zur Seite gestellten Puppen, der Henker und, im Hintergrund, Jonas Kaufmann als Calaf © Wiener Staatsoper GmbH/Monika Rittershaus

» Turandot «, 2. Akt: Asmik Grigorian als Turandot, die ihr von Claus Guth zur Seite gestellten Puppen, der Henker und, im Hintergrund, Jonas Kaufmann als Calaf

© Wiener Staatsoper GmbH/Monika Rittershaus

VII.
Asmik Grigorian zeigte sich, wie nach ihrer Leistung als Lady Macbeth in Salzburg befürchtet werden mußte, auch mit der Partie der Turandot überfordert. Ihre Stimme klang uneben; präsenter im Bereich des unteren Registers, doch klein im Bereich über dem passaggio. Am Premièren-Abend im Haus war sie in der Sext darüber manchmal kaum über dem Orchester hörbar. Bei fast allen Tönen oberhalb des höheren Sopran-› g ‹ hörte man, wie die Stimme eng, dafür der Ton offen wurde; z.B. am Ende von In questa Reggia bei […] su voi quella purezza, quel grido e quella morte! Quel grido e quella morte! Coperto? Fehlanzeige. Die Tongebung war, zumal bei den länger zu haltenden Noten, unruhig. Oft, wie z.B. nach der Rätselszene, formte Grigorian die Töne mit dem Mund und der Stellung der Lippen. Dieser Überforderung war die Sängerin jeden Versuch einer musikalischen Gestaltung zu opfern gezwungen. Einige Phrasen absolvierte sie en passant, anstatt dem vom Komponisten festgelegten Notentext zu folgen. (Und nein, hier geht nicht vom Gebrauch des rubato die Rede.) Für fast alle von Puccini tenuto geforderten Stellen (deren gibt es in der Partie der Turandot einige), die dennoch in die Phrasen eingebunden werden sollten, reichten Grigorians Kräfte einfach nicht aus.

Grigorian sang sehr textundeutlich. Wenn Gina Cigna auf einer über 80 Jahre alten Aufnahme textdeutlicher klingt, stimmt etwas grundsätzlich nicht. Dieses Phänomen ist weder mit einer Änderung des Publikumsgeschmacks durch die Jahrzehnte noch mit der immer wieder zur Verteidigung dienen müssenden Begründung nach einem anderen Gesangsstil erklärbar.

Selbst der TV-Zusammenschnitt einiger Abende für die Übertragung erwies Grigorian einen schlechten Dienst. Die Tontechniker schoben in Pervertierung des originalen Höreindrucks die Sängerstimmen in den Vordergrund. Das läßt alle Stimmen größer erscheinen, als sie im Haus klangen; — doch um den Preis, daß auch die gesangstechnischen Mängel noch offenkundiger werden.

Ja, Asmik Grigorian » überlebte « den Abend; — wie auch jene, an welchen sie in Salzburg als Lady Macbeth auf der Bühne stand. Doch um welchen Preis? » Fach « hin oder her, dieser Stimme fehlt es am Kaliber für eine Turandot. Der seit der Besetzung als Cio-cio-san auch in Wien mit Nachdruck betriebene stimmliche Selbstmord auf Raten scheint mir bedenklich fortgeschritten und ist nicht mehr zu überhören.

VIII.
Die Partie der Liù ist zwar nicht allzu groß, doch fällt ihr dramaturgisch eine wichtige Rolle zu: Sie ist der Katalysator und bestimmt (zumindest nach den Intentionen der Schöpfer) mit ihrem Selbstmord den Wert des Prinzen. In der Neuproduktion überantwortete man die Partie Kristina Mkhitaryan. Allein: Auch diese Besetzung blieb in Bezug auf die musikalische Gestaltung und im Vergleich zu ihren Rollenvorgängern unter dem Niveau, das man zu einem solchen Anlaß an ein großes Institut stellen darf. Mkhitaryans Stimme ging — vornehmlich in den Abstiegen über dem passaggio — ein paar Mal im Orchester unter. Bei länger gehaltenen Tönen war ein störendes Vibrato zu hören. Der Sopran der Russin ist eine der vielen heute gezüchteten Stimmen ohne Persönlichkeit, geformt in den Fabriken, die wir Konservatorien und Universitäten nennen. Mkhitaryans Stimme besitzt wenig Kern, weshalb die Sängerin — auch hier war die Unebenheit der Tongebung über den gesamten Stimmumfang zu hören — ihre Stimme ab der Mittellage abdunkelte, um mehr Kern, mehr Volumen vorzutäuschen. Zum Ausgleich klang sie in der hohen Lage leicht und gefällig, erkauft mit weit offenem Mund. Ah, pietà! am Ende von Signore, ascolta! ließ einen achselzuckend zurück, anstatt, wie z.B. bei Magda Olivero, zu berühren.

IX.
Und Jonas Kaufmann? Der warf all seine sängerische Intelligenz und Erfahrung in eine Schlacht, die er doch nicht gewinnen konnte. Den Großteil des Premièren-Abends über hinterließ er mir den Eindruck eines gewissen Unbeteiligtseins an dem, was auf der Bühne vor sich ging; wie er Calaf darzustellen hatte. Ganz auf seine Partie konzentriert, nahm Kaufmann Puccini beim Wort und sang, was der Komponist notiert hatte — bis hin zum nur kurzen hohen Tenor-› h ‹ am Ende von Nessun dorma!, ehe die Arie auf dem › a ‹ endet.1 Der Wahlösterreicher begab sich damit in gute Gesellschaft: Auf fast allen frühen Aufnahmen sangen die Tenöre, was in der Partitur steht.

Allerdings: Der Abend gab auch Aufschluß darüber, daß Kaufmanns Stimme in den letzten Jahren ihres Glanzes verlustig ging. Sie klang stumpf bzw. nahm sie der Tenor trotz gegenteiliger Notierung in der Partitur bewußt zurück, wenn er auf Nummer Sicher gehen wollte. Oft, wenn eine Phrase im Bereich des passaggio endete oder Spitzentöne piano erreicht werden sollten, hörte man offene, zum Teil unfokussierte Töne (beispielsweise im Finale des zweiten Aktes). Erfolgreiche Abende hören sich anders an.

X.
Ich vertraue darauf, daß Marco Armiliato am Pult alles in seiner Macht Stehende tat, die Sänger möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Allein: Langsame Tempi (die durchaus historisch begründbar sind), reichen dazu ebensowenig wie die Zügelung der Lautstärke, wenn die Aufführung dadurch der Binnenspannung verlustig geht. Was nützt ein vielschichtiger, durchhörbarer Orchesterklang, wenn der Abend zunehmend in Langeweile versinkt?

XI.
Von Peter F. Drucker2, dem Vater der modernen Management-Theorie, ist der Ausspruch überliefert, die Leute verwendeten das Wort » Guru « nur, weil » Scharlatan « zu schwer zu buchstabieren sei.
Der Mann wußte, wovon er spricht.

  1. Der TV-Mitschnitt, zumindest von Nessun dorma!, stammt übrigens nicht vom Premièren-Abend. Darin hält Kaufmann — wie’s Brauch und doch von Puccini nicht notiert ist — das hohe › h ‹ beim finalen Vincerò.
  2. Peter F. Drucker (1909 – 2005) wurde in Wien geboren, Nach seinem Studium übersiedelte 1932 nach England und 1937 mit seiner Frau Doris in die U.S.. Dort arbeitete er als Consultant und wurde stark von Alfred P. Sloan, dem CEO von General Motors, beeinflußt. Drucker gilt als der Vater der modernen Management-Theorie. Er prägte den Begriff des knowledge workers, des »&8239;Wissensarbeiters&8239;«. Sein erfolgreichstes Buch ist The Effective Executive. Es gilt als Klassiker der Management-Literatur.

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