Piotr Iljitsch Tschaikowski:
» Eugen Onegin «
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Es macht wenig Sinn, über vergossene Milch zu greinen. Außerdem: Ich sagte dies bereits.
Musikalisch bot der Abend einige schöne Momente. (Man merkt denn doch, ob ein » Konzertmeister « am ersten Pult sitzt. Oder ein Konzertmeister.) Differenziert das Vorspiel, dynamisch abgestimmt, das Orchester nicht lärmend wie an zuletzt besuchten Abenden. Das Vorspiel: nach Tcherniakov — selbstverständlich! bin ich bereit zu ergänzen — bei offenem Vorhang.
Wieviel von des Orchesters Leistung Lothar Koenigs’ Leitung oder dem an einigen Positionen hervorragend besetzten Staatsopernorchester zuzuschreiben ist: Darüber gehen die Meinungen unter Opernfreunden seit Ewigkeiten auseinander. Das mit vielen ausländischen Gästen durchsetzte Publikum jedenfalls schien mehrheitlich an der Musik wenig interessiert. Kopfschütteln denn auch bei Lothar Koenigs, als in die verklingenden Takte des ersten Bildes applaudiert wurde. Nämliches sollte sich vor der Pause noch mehrmals wiederholen.
Koenigs setzte auf gemäßigte Tempi. Das muß nichts Schlechtes sein. Wir wissen: Absolute Zeit gilt wenig in der Musik, der Zusammenhalt alles. Allerdings: Ohne entsprechende Sänger lauert die Langeweile hinter jeder Phrase.
Der Abend gelang nicht fehlerfrei (die Hörner! das Solo-Cello!); doch gut. Man spielte nicht zu laut, engagiert; — und im Geiste des Komponisten. Gut disponiert präsentierte sich auch der Chor der Wiener Staatsoper, seit jenem denkwürdigen 15. Oktober 2021 wieder in sein Recht eingesetzt.
III.
Daria Sushkova ist in Typ und Stimme der Besetzung der Première, Anna Goryachova, ähnlich. Auch Shushkova sang als Olga den ganzen Abend mit gepreßtem Ton; mit gaumigem Russisch. War schwer verständlich. Keine Spur auch von jener Altstimme, welche Tschaikowski für diese Partie vorgesehen hatte. Die Folge: Immer wieder ging die Stimme dieser Olga in den Klangwellen unter, fehlte es an Volumen und Ausdruck. Einzig gültiger Einwand: Bei Tcherniakov darf Olga ihren Lenski nicht lieben, also bedarf es auch nicht jenes schwärmerischen Untertons eines durchaus leichtlebig gezeichneten Mädchens vom Land.
Nervig Elena Manistinas Larina mit ihrem dauernden, störenden Gelächter, aber wenig attraktiver Stimme, und Elena Zaremba als gesanglich unbefriedigende Filipjewna. Hausbesetzungen für diese Partien haben wir offensichtlich nicht mehr.
IV.
Die Figur des Lenski, wie schon in der Premièren-Serie dargestellt von Bogdan Volkov, litt einmal mehr (nicht nur) unter der Schizophrenie zwischen zu singendem Text und den Anweisungen des Spielvogtes. Letzterer überantwortete auch Monsieur Triquets couplet dem Sänger des Lenski, obwohl doch die Mädchen ersteren bitten, er möge für sie singen. Seltsam …? Doch so ward es aufgeführt.
Stimmlich überzeugte mich Bogdan Volkov ebensowenig wie in den vorhergegangenen Aufführungsserien: Die Stimme klang nur im piano und in der Mittellage angenehm. Immer wieder brach die Gesangslinie, wechselte die Lautstärke innerhalb eines Taktes, wenn tenorale Höhen zu erklimmen oder Abstiege zu absolvieren waren. Kuda, Kuda
, Lenskis Abschied von der Welt, fehlte es an der Darstellung der Unabänderlichkeit des Verlaufes der Dinge mit stimmlichen Mitteln. Diese Arie erfordert ein Höchstmaß an gesanglicher Gestaltung, pendelt zwischen Fatalismus und Hoffnung, Fügung und Aufbegehren. Soll uns betroffen machen. Doch von Betroffenheit, Gott sei’s geklagt, war an jenem Abend keine Spur.
V.
Ain Anger sang einmal mehr den Fürst Gremin. Anger präsentierte sich stimmlich besser als zuletzt. Dennoch klang das alles mehr wie nebenbei statt mittendrin, mit zu wenig stimmlicher gravitas. Es war, so eines den Text nicht kennt, schwer zu glauben, daß da ein älterer Mann von der Liebe zu seiner Frau sang. — Überhaupt strotzen die letzten zwei Bilder dieser Produktion vor dem Text und der Musik zuwiderlaufenden Spielanweisungen. Man opferte sie den Launen eines Spielvogtes. Die einzige (doch bei genauerer Betrachtung ebenso untaugliche) Rechtfertigung mag sein, daß es auf dem Altar des Nichtwissens geschah.
VI.
Ruzan Mantashyan schien bei ihrem Haus-Debut zu sehr mit den spieltechnischen Aufgaben beschäftigt, als daß sie die Partie der Tatjana mit stimmlichen Mitteln darstellen konnte. Mantashyan wagte sich erst im dritten Akt aus der (gesanglichen) Deckung. Da hörte ich eine flache, helle Sopranstimme ohne Volumen im Bereich oberhalb des passaggio und ohne die notwendige Durchschlagskraft. Dutzendware.
Vor der Pause war die gebürtige Armenierin mit abgedunkelter Stimme zu Werke gegangen. Einzig die Spitzentöne hatten hell geklungen, doch losgelöst vom Rest der Stimme. Der Briefszene fehlte es an der gesanglichen Gestaltung. Tschaikowski komponierte Wellen des Überschwangs und des Zögerns, eine Vielzahl von Stimmungen: Euphorie, Angst, Gewißheit, Skepsis. All diese hätte ich gerne gehört. In einigen Phrasen, vor allem in der oberen Mittellage, erinnerte mich Mantashyans Stimme an die Anna Netrebkos von vor fünf Jahren — mit (zu) offenem, dabei gaumig-gurrenden, flachen Ton.
VII.
Boris Pinkhasovich sang zum ersten Mal Eugen Onegin in der von Dmitri Tcherniakov szenisch verantworteten Produktion. Man hörte es. Pinkhasovich ging verhaltener zu Werke als in der Vorgänger-Produktion, die Diskrepanz zwischen gefordertem Spiel und zu singendem Text schien mir fühlbar.
Pinkhasovich ist kein Pavel Lisitian. Sein Russisch klingt dunkler und geschlossener als jenes des großen Vorgängers. Doch Pinkhasovich sang auf Linie, gab den Phrasen Bedeutung. Kurzum, er verstand es, Onegin stimmlich zu zeichnen. Die große Szene Onegins am Ende des ersten Aktes war mir Höhepunkt des Abends. Tschaikowskis Onegin ist — im Unterschied zu Puschkin und Tcherniakov — kein arroganter Lebemann. Tschaikowskis Figur, die Musik erzählt es uns, meint, was er sagt. Ob er, wie Tatjana in der Nacht davor, Angst hat, ein in ihm keimendes, durch den erhaltenen Brief sich regendes Gefühl zu offenbaren? In Onegins großer Szene blieb die Musik an diesem Abend jedenfalls siegreich. Da gelang es einem Sänger, uns die Verirrungen eines Spielvogtes vergessen zu machen.
Das gilt, zumal heutzutage, nicht wenig.