» Wozzeck «: Marie (Anja Kampe) und Franz Wozzeck (Christian Gerhaher) auf dem Waldweg am Teich © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Wozzeck «: Marie (Anja Kampe) und Franz Wozzeck (Christian Gerhaher) auf dem Waldweg am Teich

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Alban Berg: » Wozzeck «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Der Abend war belanglos; — und dennoch von Belang. Nicht nur der Darstellung des Irrweges, den diese Kunstform, » unsere « Kunstform, die Oper, nimmt. Wozzeck zu spielen, ohne betroffen zu machen: eine seltene Kunst.

II.
Vorrede: Berg selbst fand manch erklärendes Wort zur musikalischen Struktur und dem Inhalt seines Wozzeck. Und gab dennoch den Rat, der Besucher möge alle Gesagte vergessen, wenn er das Werk höre. Sich einlassen.

Bergs erste Oper ist herausfordernd. Nicht einfach zu studieren, nicht einfach zu spielen, nicht einfach zu singen. Besonders letzteres, denn Berg schrieb für wenige Szenen die Verwendung der Sprechstimme vor. Für andere verlangte er einen » Sprechton «, eine rhythmische Deklamation, bei der der Sänger — anders als beim Rezitativ — die vorgeschriebene Tonhöhe und -länge möglichst genau einhalten solle. Beim » Sprechton « verläßt die Stimme die vorgeschriebene Tonhöhe immer wieder, steigt oder fällt durch die Modulation des Wortes, während beim gesungenen Ton die Tonhöhe einzuhalten ist. Der Übergang zum Rezitativ bzw. zum vollen Gesang erfolgt fließend, dabei jedoch — trotz mancher harmonischer Verwendung — niemals ohne Kenntnis der vokalen Möglichkeiten.

III.
Erstes Mißverständnis: Alban Berg vertonte einen Text Georg Büchners (1813 – 1837) über den Perückenmacher, Barbier und Soldat Johann Christian Woyzeck, der 1821 seine Geliebte Johanna Christiane Woost erstochen hatte. (Woyzeck wurde 1824 in Leipzig öffentlich hingerichtet.) Des Komponisten Sinn war offensichtlich, eine in einem historische Theaterstück geschilderte Begebenheit mit den ihm zu Gebote stehenden, zeitgenössischen musikalischen Mitteln auf die Opernbühne zu bringen. Eine Aktualisierung des Stoffes (für welche es nach dem Grauen des Ersten Weltkrieges jede Menge Argumente gegeben hätte) schien Berg nicht erforderlich, um seine Oper für das Publikum interessant zu machen. — Was verrät uns das über Simon Stones und Philippe Jordans Entscheidung der Übertragung des Inhaltes in das 21. Jahrhundert? (Denn ja: Auch der für die musikalische Seite zuständige » Erste Interpret « trägt dafür die Verantwortung.)

Mißverständnis Nr. 2: Berg hatte bei seinen Forderungen nach der Verwendung der Sprechstimme und dem » Sprechton « den Klang von Stimmen seiner Zeit im Ohr: theatergerechtes Sprechen ohne Verstärkung. Gut im Körper sitzende Stimmen, welche große Räume, Hallen nuancenreich zu beschallen wußten; — nicht das heute übliche Nuscheln und Säuseln, welches kaum bis zu den Sperrsitzen dringt. Sänger, deren Stimmen auch im piano tragen.

» Wozzeck «: Marie (Anja Kampe) gibt dem Werben des Tambourmajors (Sean Panikkar) nach © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Wozzeck «: Marie (Anja Kampe) gibt dem Werben des Tambourmajors (Sean Panikkar) nach

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Mißverständnis Nr. 3: der Anspruch der » Ersten Interpreten « (Regisseur und Dirigent) auf Autorenschaft des Abends. Nichts illustriert dies besser als die Nachstellung eines Bildes auf der Website der Wiener Staatsoper (aus Gründen des Urheberrechtes hier nicht wiedergegeben): links Alban Berg am Fenster seines Hauses, unter ihm sein von Arnold Schönberg geschaffenes Portrait; daneben Simon Stone über demselben Gemälde. Hier der Autor, der Schaffende; daneben ein » Erster Interpret « im fortgesetzten Irrtum über seine Stellung.

V.
Wenngleich das Gewicht auf der musikalischen Seite des Abends liegen soll, scheinen einige Mitteilungen betreffend die Szene geboten: Abermals — wie schon in Salzburg, wie bei La traviata — läßt sich Simon Stone vom für die Bühne verantwortlichen Bob Cousins den bespielbaren Raum auf nur wenige Quadratmeter beschränken. Fürchtet er das Scheitern seiner szenischen Ideen in großen Räumen?

Das Publikum darf, der Rezensent soll dramaturgischen Zurechtrenkungen zweifelnd, weil prüfend gegenüberstehen. Abermals verlegt Stone Orte und Zeit der Handlung. Aus einer nicht näher identifizierbaren Garnisonsstadt wird, Anleihen an die U-Bahn-Station Simmering der Bundeshauptstadt machen es möglich, Wien. Aus dem beginnenden 19. Jahrhundert wird das 21. Weniges nur spielt, wo bzw. wie Berg es in der Partitur beschrieben hat: Aus des Hauptmanns Zimmer wird ein Frisiersalon, Wozzeck und Andres schneiden keine Stöcke, sondern stehen in der Schlange vor dem Arbeitsamt, Maries Stube entpuppt sich als mit teuer aussehenden, modernen Haushaltsgeräten ausgestattete Zweizimmerwohnung. Aus der Straße in der Stadt wird ein Fitness-Studio, und anstatt der Schenke ließ sich Stone besagten U-Bahn-Bahnsteig bauen. All das rotiert fast unablässig auf einer Drehbühne, wandelt und verwandelt sich. Hat kaum mehr etwas mit Bergs Wozzeck zu schaffen.

Auch die Zwischenspiele, wie könnte es anders sein, werden bebildert: Sänger und Choristen und Statisten wandern unablässig durch die immer gleichen Türen zum nächsten Segment. Der Einsatz an Menschen und Material scheint enorm. Dabei beeindruckt, wie leise, wie rasch und wie umsichtig der Technische Dienst des Hauses die Verwandlungen vorzubereiten weiß.

Am Ende, wenn alles gesungen ist, wird Wozzeck, der doch eigentlich Ertrunkene, an einem Bergehaken hoch über die Bühne gehievt, wo er sich um die eigene Achse dreht. Darunter ruft Maries und Wozzecks Bub Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!, während er mit einem Feuerwehrauto spielt, statt, wie’s in der Partitur steht, auf einem Steckenpferd zu reiten.

VI.
Stone » übermalt « Wozzeck.

Dabei übersieht er (oder es ist ihm gleichgültig), daß seine Eingriffe die von Büchner und Berg intendierten Beziehungen des Personals zueinander verändern: der längst dem Wiegenlied entwachsene Bub, wo Marie und Wozzeck einander doch kaum drei Jahre kennen. Wozzeck im Frisiersalon und ohne Uniform anstatt als » Pfeifendeckel « den Hauptmann in seinem Zimmer rasierend, wie’s beim Militär üblich war. Des Hauptmanns abkanzelnde Bemerkung betreffend Wozzecks uneheliches Kind stellt sich in Stones Interpretation anders dar als zu Woyzecks und Büchners Zeiten, wo Soldaten (wie übrigens auch Dienstboten) die Ehe verboten war.

Unglaubwürdig Wozzecks Besuch im Fitness-Studio, wo er doch angeblich arm ist und seine Löhnung wie die Zusatzverdienste vom Hauptmann und dem Doktor bei Marie abliefert. Was soll uns das Turnusärztegeschwader in der Szene zwischen Wozzeck und dem Doktor, während die Rede von Hülsenfrüchten geht? Was die Darmspiegelung, während Wozzeck, auf einem OP-Tisch liegend, weiter zu singen hat? Der Tambourmajor wird bei Stone zum Polizisten, sodaß die Frage bleibt, wie, warum und wo er vor Wozzeck mit Maries Eroberung prahlt, den Kameraden drangsalieren kann.

Wie wahrscheinlich ist es, daß eine Frau, die sich eben noch in aller Öffentlichkeit mit einem Kniestoß gegen das Gemächt des sie Bedrängenden wehrte, eine Minute später verführerisch nachgibt? Daß der Bedränger nicht von ihr abläßt, sondern seine Bemühungen verdoppelt? Die Burschen und Soldaten aus der Schenke verwandeln sich in maskierte Bienen, Schweinchen und Frösche. Alle treffen einander in besagter U-Bahn-Station. (Im Wiener Untergrund herrscht anscheinend das ganze Jahr über Maskenball.) Auch Wozzeck trägt ein Fellkostüm.

Die Meyerholde taten solches: in Klassikerstücke, nachdem sie sie ihres Sinns entkleidet, jetzige Zeitprobleme zu bugsieren. Werke in Aberkennung der Leistungen ihrer Autoren als Material für ihre Einfälle zu mißbrauchen, anstatt zur Diskussion heutiger Themen selbst zu dichten. Stone versucht, es ihnen gleichzutun; ohn’ Rücksicht auf Büchners altertümlichen Text, Bergs Musiksprache.

» Wozzeck «: Der Doktor (Dmitry Belosselskiy), Wozzeck (Christian Gerhaher) und der Hauptmann (Jörg Schneider) bei ihrem Zusammentreffen auf der Straße. Simon Stone verlegte diese Szene in ein Fitness-Studio. © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Wozzeck «: Der Doktor (Dmitry Belosselskiy), Wozzeck (Christian Gerhaher) und der Hauptmann (Jörg Schneider) bei ihrem Zusammentreffen auf der Straße. Simon Stone verlegte diese Szene in ein Fitness-Studio.

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Alles dreht sich, alles bewegt sich also an diesem Abend. Das nimmt der musikalischen Seite der Aufführung viel von ihrem Potential. Daß Philippe Jordan Stone gewähren ließ: Feigheit vor dem Feind. (Das eint ihn mit vielen seiner Dirigentenkollegen.) Doch damit gerät Bergs hervorragende Komposition ins Hintertreffen. Büßt zuviel von ihrer Wirkung ein, als daß sie ihren Beitrag leisten könnte, Wozzeck dauerhaft im Repertoire zu verankern. Schon bald schafft sich der Eindruck von Oberflächlichkeit Raum. Die Zwischenspiele (so man sich darauf zu konzentrieren vermag), verhuschen, scheinen wenig durchgearbeitet: die piano notierten Passagen geraten zu laut, die forte- oder fortissimo-Stellen zu leise. In den Szenen billigt Jordan der Musik wenig mehr als illustrierenden Charakter zu.

(Man höre sich, auch das Gesangspersonal betreffend, Karl Böhms Interpretation von der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper an. Den Mitschnitt aus München aus 1970, unter Carlos Kleiber. Oder dessen Aufführung der Bruchstücke mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahr 1982. — Wer ermessen will, wie eindringlich Alban Berg klingen kann, konnte sich eben erst im philharmonischen Abonnement davon überzeugen. Dort brachte Thomas Ádes Drei Orchesterstücke op. 6 zur Aufführung. Es wäre ein coup de théâtre gewesen, Ádes für diese Neuproduktion oder die Wiederaufnahme der Dresen-Arbeit zu gewinnen.)

VIII.
An besagtem Abend blieben auch die Sänger hinter den Erwartungen zurück: Der Marie der Anja Kampe fehlte es rundum an stimmlicher Größe. In ihren Ausbrüchen, vor allem, wenn Berg die gesangliche Linie in die Höhe führt, verlor Kampes Gesang oftmals den Fokus; wurde hell und schrill. Erklangen die Töne ohne Verbindung zum Rest ihrer Stimme.

Dmitry Belosselskiy tat sich als Doktor schwer, trotz des eigentlich witzigen Textes die Autorität des Studierten erfahrbar zu machen. Zu hell, zu klein hörte sich sein Baß an, zu oft — vor allem in der Straßenszene, hier: im Fitness-Studio — ließ die Textdeutlichkeit zu wünschen übrig.

Der Hauptmann schien mir mit Jörg Schneiders lyrischem Tenor fehlbesetzt. Frühere Rollenvertreter waren Herwig Pecoraro, Heinz Zednik, Gerhard Stolze und Peter Klein; nach Erich Seitters Ansicht im Programmheft der vorhergehenden Produktion Charaktertenöre mit scharfem, spitzen Klang. Obwohl sich Schneider auch bei Berg um die Gesangslinie bemühte, klang doch vieles, vor allem in der Höhe, fahl und klein. Das entkleidete die Figur ihrer bösen, herablassenden Art.

Rollendeckend die Handwerksburschen von Peter Kellner und Stefan Astakhov, ebenso Thomas Ebenstein als Narr. Die Margret der Juliette Mars hätte von weniger Schärfe in ihrer Stimme profitiert, der Tambourmajor von Sean Panikkar (einen eigenen gleicher Qualität haben wir offenbar nicht im Ensemble) von mehr Volumen und stärkerer Bühnenpräsenz; von heldenhaften Zuschnitt in der Stimme keine Spur. Dafür hinterließ mir Josh Lovell als Andres einen günstigen Eindruck, vergleicht man sein Tun mit dem mancher Kollegen.

Christian Gerhaher stattete den Wozzeck für fast jede Silbe, jeden Ton mit einer anderen Stimmfarbe aus: jahrzehntelang geübte Praxis des Liedsängers, zu hören vor allem in den Interpretationen von Werken von Widmann (Das heiße Herz) und Schönberg (Das Buch der hängenden Gärten); — weniger bei Schumann, dem erklärten Liebling. Doch die Oper gehorcht anderen musikalischen Gesetzen; verlangt nach der Stetigkeit des Tons innerhalb einer Phrase. Nach dem Festhalten an einmal getroffenen gesanglichen Entscheidungen bei großem Ton, bei einem Mindestmaß an gleichbleibendem Stimmdruck auch im piano. Das ging ab. Manches geriet so unhörbar, denn selten nur erhob dieser Wozzeck kraftvoll seine Stimme.

Gerhaher aquarellierte das vokale Seelenbild eines von seiner Umwelt verlachten und nicht ernst genommenen Menschen mit dem analytischen Blick des studierten Mediziners. (Wo doch Ölfarben am Platze gewesen wären.) Blickte bei seiner vokalen wie dramatischen Darstellung immer auch von außen prüfend auf die darzustellende Figur. Doch ist das Wozzeck? Ist Wozzeck nicht ein guter Mensch? In seiner Einfalt der Kirche gläubig, dem Hauptmann untergeben, dem Doktor willig? Und das alles in seinem Bemühungen um zusätzliches Einkommen für Marie? Im Willen, Verantwortung für sie und das Kind zu übernehmen, so gut er’s vermag? Wird ein Wozzeck, der seines Hauptmanns Sadismus — Ich glaub’, wir haben so was aus Süd-Nord? — durchschaut und durch seine Körpersprache Aggression erkennen läßt, den Ideen des Komponisten noch gerecht?

IX.
Während andere Inszenierungen mit der Kinder grausamem Drang nach Aufmerksamkeit und dem unschuldigen Hopp, hopp! von Maries Bub Betroffenheit erzeugen, blieb man hier bis zum Erlöschen der Scheinwerfer unberührt.

Welches Bild haftet von diesem Abend? Ich fürchte, keins.

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