Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Vom Singen oder:
Conrad L. Osborne und andere über die » Bruststimme «

Von Thomas Prochazka

[…] Fast jeder weiß, daß heute von vielen Gesangslehrern die volle Benutzung der Bruststimme eher abgelehnt wird. Soweit eine Reaktion auf meine Eindrücke von den Vorstellungen von Tosca- und La traviata zu Saisonbeginn im Haus am Ring.

II.
Fast? Voll? Eher? Die Wortwahl scheint vage. Geradeso, als wolle der Kommentator etwas behaupten, ist sich jedoch nicht sicher, ob es stimmt. Weiter hieß es: Da besteht immer die Angst, man würde die Stimmen zu › schwer ‹ machen und ruinieren. Eine bedeutende Sängerin sagte in einem Kurs sogar einmal, die Bruststimme wäre das Niedere, Primitive[,] und die Kopfstimme das Höhergeistige.

Wir kennen diese bedeutende Sängerin und wissen um ihre Verankerung in der » Deutschen Schule « ebenso wie darum, daß sie — bei all ihren von Intelligenz und großer Sorgfalt geprägten Interpretationen — die Bruststimme kaum einmal zur Erzielung jener stimmlichen Dramatik eingesetzt hat, welche, hört man den großen Alten zu, Mozart von den Sängern seiner italienischen Opern erwartete. (Weil damals übliche Praxis.)1

III.
Eine Sopranistin schrieb mir, dieser Kommentar verbreite den mehr als 50 Jahre alten Mist von der schweren Bruststimme, die schädlich ist. Ein Mythos. Und: Das Problem ist, daß viele Professoren diesen Mist weitergeben. Und leidenschaftlich daran glauben. Überprüft haben sie es ja nie. So, selbst unfähig, einen einzigen klaren Ton zu produzieren, müssen sie an eine Ideologie glauben. Leider wissen sie nicht, wie › geil ‹ es ist, Brusttöne zu singen, eine gut entwickelte Stimme zu besitzen.

IV.
Sind die Lehren — unter anderem — eines Virgilio Mazzocchi (1597 – 1646), eines Manuel Garcia II (1805 – 1906) oder einer Mathilde Marchesi (1821 – 1913), die den Alten als große Stimmpädagogen galten, heute nichts mehr wert? (Und wenn ja, warum wäre das so?) Die Erkenntnisse der guten Lehrer dieser Generationen brachten immerhin ein Fülle großartiger Stimmen hervor. Stimmen, die einen Kern besaßen. Und für die der Einsatz des Brustregisters das Natürlichste von der Welt war: Weil sie, die ohne das Mikrophon aufgewachsen waren, um die Macht ihrer Bruststimme wußten.

Conrad L. Osborne: Opera as Opera. The State of the Art, Proposito Press, 2018; Hardcover, 827 Seiten, ISBN 978-0-999-43660-8

Conrad L. Osborne
»Opera as Opera. The State of the Art«
Englische Ausgabe
Proposito Press, 2018; Hardcover, 827 Seiten.
ISBN 978-0-999-43660-8
Preis: ca. EUR 36,–
Erhältlich via www.amazon.de

Conrad L. Osborne, Doyen der amerikanischen Opernkritiker, Sänger und Lehrer, meinte in einer Veranstaltung für Opera America im September 2018: Wir haben dieses große Künstlersystem, wo jedes Jahr wie in das weite Ende eines Trichters hunderte, tausende Sänger hineindrängen, und am anderen Ende kommen jene heraus, die überlebt haben. Leute, die junge, angehende Künstler werden, eventuell eine Karriere begründen. Aber unter all diesen befinden sich kein einziger dramatischer Sopran, kein einziger dramatischer Tenor, kein einziger Buffo-Baß oder welche Kategorie einer richtigen Opernstimme man nennen mag. Da sind eine Menge guter Musiker darunter, eine Menge kompetenter Sänger, aber: Irgendwie läuft irgendetwas falsch. Und das hat mit der Ausbildung zu tun.

Wie erklären diese angeblich » vielen « Gesangslehrer, welche die volle Benutzung der Bruststimme eher ablehnen, ihre Behauptung? Wie argumentieren sie die — wohlgemerkt, unter Professionisten — unbestrittene Tatsache, daß Birgit Nilsson der letzte dramatische Sopran jenes Kalibers war, das in der Geschichte des klassischen Gesangs als selbstverständlich galt?

Conrad Osborne: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Sopranistinnen ich in meinem Studio hatte, die eine respektable Universitäts- oder Konservatoriumsausbildung abgeschlossen hatten und denen eingeschärft wurde: Verwenden Sie niemals Ihre Bruststimme! Nach dem Motto: Verwende keine Bruststimme, entwickle sie auf keinen Fall. Nun: Ein paar Leute können damit eine Weile durchkommen, und sie können nette Stimmen haben. Aber es ist … es ist lächerlich.

V.
Die Zeit der unterentwickelten Bruststimme begann bereits vor rund 50 Jahren. Nach und nach wurden immer mehr Sänger auf den Markt gedrängt, welche eine intelligente Interpretation über den einfachen, mitreißenden Einsatz einer großen Stimme, so Osborne, stellten. Darf man annehmen: in Ermangelung zweiterer? Denn in Wahrheit steht diese Wahl ja nur jenen offen, welche tatsächlich über eine große Stimme verfügen.

Vielleicht hilft es, sich klar zu machen, daß der Begriff » Bruststimme « mehr umfaßt als nur tiefe Noten. Er beschreibt, so Osborne, eine tonale Qualität. Diese ist abhängig von der Aktivierung bestimmter neuromuskular koordinierter Anpassungen der Stimmbänder in Kombination mit der Stimulierung bestimmter Resonanzfaktoren. Doch viele der heutigen Sängerinnen — anders als jene vor 100 Jahren — zögern, diese Koordinierung aktiv zu betreiben. Ihnen wird oft beigebracht, es nicht zu tun, aus Angst, daß sie den resultierenden » Bruch « (das passaggio, Anm.) nicht bewältigen können, die Bruststimme zu hoch treiben, usw.2

Obwohl das Fehlen der » Bruststimme « bei Frauenstimmen offensichtlicher ist, wo es nur einen kleinen Teil des Gesamtumfangs ausmacht und deren Qualität einen deutlichen Kontrast zum Rest der Stimme bildet, ist (unter anderem nach Osbornes Meinung) die relative Absenz der gleichen Funktion, der gleichen Aktivierung des Kehlkopfes in so vielen heutigen Männerstimmen zumindest mitverantwortlich für den Verlust von Kaliber und Kern. Allerdings denken wir kaum daran, weil der größte Bereich der männlichen Gesangsstimme unter dem passaggio liegt und die Qualitätsänderung nicht so stark ist. Doch das Problem besteht für alle klassischen Stimmen aller Kategorien.

Viele junge Sängerinnen, so Osborne an anderer Stelle, gleich welche Art von Sopran- oder Mezzosopran-Stimme sie besitzen, leicht oder schwer, groß oder klein, haben nicht viel von einem Brustregister da unten, wo es hingehört. Wenn man beginnt, schafft man eine neue Reihe von Problemen. Man schafft einen Bruch: das passaggio. Vorher gab es kein passaggio, weil es keine Bruststimme gab. Die Stimme versiegt, je tiefer die Töne werden. Wenn es eine schöne, hübsche, lyrische Stimme ist, kann die Sängerin so weitersingen — vielleicht für eine Weile sogar sehr effektiv. Aber auf Dauer …?

Osborne diskutiert diese und andere gesangstechnische Fragen in bezug auf die Kunstform Oper in seinem Buch Opera as Opera3. (Ich schrieb dies bereits.) Er beschränkt sich dabei nicht nur auf eine Stimmgattung, sondern analysiert die beobachteten Phänomene (und, bin ich hinzuzufügen versucht, der Fehlentwicklungen) der verschiedenen Stimmfamilien. Osborne vergleicht unter anderem die Stimmen von Luisa Tetrazzini und Joan Sutherland und bietet zahlreiche Beispiele und Referenzen zur Überprüfung. Eine Empfehlung für alle Opernfreunde und — eigentlich — Pflichtlektüre für alle, die beruflich mit Oper zu tun haben.

VI.
2008 stellte Peter G. Davis in einem Beitrag für die New York Times die Frage nach den neuen Carusos und Ponselles: Ist es einfach so, daß außergewöhnliche stimmliche Kraft eine Rarität der Natur ist und daß ein Caruso nur einmal im Jahrhundert hervorgebracht wird? Nein, sagen zahlreiche Impressarii, Manager, Gesangslehrer, Trainer und Administratoren, die musikalische Talente heranziehen helfen. Potentiell große Stimmen sind ziemlich häufig, doch die Bedingungen in der heutigen Musikwelt sind deren Entdeckung und Entwicklung nicht förderlich.4

Besteht vielleicht die Möglichkeit, daß eine der Ursachen des Verfalls der Gesangskunst jene vielen Gesangslehrer sind, von welchen die volle Benutzung der Bruststimme eher abgelehnt wird?

  1. Siehe dazu die Besprechung der CD-Aufnahme von Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni unter Bruno Walter von den Salzburger Festspielen 1937.
  2. Conrad L. Osborne: Opera as Opera. The State of the Art. Englische Ausgabe; Proposito Press, 2018; Hardcover, 827 Seiten, ISBN 978-0-999-43660-8; ca. EUR 36,–. Erhältlich via amazon.de
  3. Siehe Conrad L. Osbornes blog post vom 27. Juli 2018: Q & A, Mostly About Voice, Plus a CLO Glossary.
  4. Peter Davis: Where are the great singers of tomorrow?, The New York Times, April 20, 1980. Zitiert nach: Joseph Shore: Where Have All the Great Singers Gone?, abrufbar via www.historicaltenors.net

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