Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail). © Thomas Prochazka

Großes Festspielhaus, Salzburg (Detail).

© Thomas Prochazka

Immortal Performances:
»Faust« (Metropolitan Opera, 1937)

Von Thomas Prochazka

Im Frühjahr 2018 veröffentlichte die Immortal Performances Recorded Music Society (IPRMS) ein 2 CD-Set der Übertragung aus der Metropolitan Opera vom 20. März 1937. Dieser Mitschnitt, eine Erstveröffentlichung, war Richard Caniells zweite Bearbeitung von Charles Gounods Meisterwerk. In Kürze: Die Aufnahme ist es wert, gehört zu werden.

II.
Bereits 1996 hatte sich Richard Caniell der Herausforderung gestellt, die Matinée der Metropolitan Opera vom 6. April 1940 für Opernliebhaber auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. Dieser Mitschnitt war auf einer Tournee der New Yorker Opernhauses in Boston entstanden und seit einiger Zeit auf dem Label »Naxos« (und anderen) erhältlich.

In beiden Mitschnitten sind Helen Jepson, die amerikanische lyrische Sopranistin, als Marguerite, Richard Crooks als Faust und Ezio Pinza als Méphistophélès zu hören. Wilfred Pelletier dirigierte. In der Aufnahme von 1940 sang Leonard Warren die Rolle des Valentin, während 1937 Richard Bonelli einen großen Erfolg beim Met-Publikum feierte.

III.
In einem Beitrag vom Januar 2019 äußerte Conrad L. Osborne, einer der führenden amerikanischen Kritiker, die Ansicht, daß uns Faust, dieses Meisterwerk der Oper, verlorengegangen ist. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Versuche, an die große Gesangstradition anzuknüpfen. Doch alle Produktionen der letzten Zeit, welche mir bekannt sind, werden dem Werk nicht gerecht.

Natürlich haben große Sänger aller Zeiten immer Arien aus Faust eingespielt. Vergleicht man allerdings das »Heute« mit dem »Damals«, wird jeder Opernliebhaber, der sich für Stimmen interessiert, zugeben müssen, daß die jüngeren Aufnahmen gesanglich bei weitem nicht mehr an ihre historischen Gegenstücke heranreichen. Der Niedergang des stimmlichen Vermögens und der Mangel an gesanglichem Können sind ab dem ersten Moment zu hören.

IV.
Wie es an der Metropolitan Opera seit ihrer Eröffnung im Jahr 1883 (man gab damals übrigens Faust) üblich war, began Akt IV direkt mit der Kirchenszene. In Akt V waren die Walpurgisnacht sowie das Ballett gestrichen worden. Außerdem kürzte man während der gesamten Aufführung hier und da, hauptsächlich bei Wiederholungen von Chorszenen.

An jenem Samstagnachmittag im März 1937 leitete der 1896 geborene kanadische Dirigent Wilfred Pelletier die Aufführung. Pelletier war von 1929 bis 1950 der »erste Mann« für das französische Repertoire an der Metropolitan Opera. Seine Lesart von Gounods Partitur ist lebendig und gleichzeitig zurückhaltend. Das kleine allargando in der Walzerszene schleicht sich, zunächst unbemerkt, ein. Ebenso das organische accelerando, wenn der Chor die Walzer-Melodie wieder aufnimmt. Im Liebesduett, dem Beschluß des dritten Aktes, bereitet Pelletier den Höhepunkt und ermutigt Marguerite und Faust, ihre gesamte Stimmkraft zu mobilisieren, ehe die Musik in den bewegenden und beruhigenden pianissimo-Akkorden vor dem fallenden Vorhang verklingt. Die Herangehensweise des Dirigenten an die Méphistophélès-Arie »Le veau d’or« zeigt dessen umfassendes Verständnis der Partitur. Pelletier ordnete das Orchester rückhaltlos Ezio Pinzas teuflischer Vielseitigkeit unter — und dessen meisterhafter, stimmlicher Beherrschung seiner Partie.

V.
Im Sommer 1937 wird Ezio Pinza bei den Salzburger Festspielen als Don Giovanni und Figaro unter der Leitung von Bruno Walter auftreten. Auch an diesem Samstagnachmittag Ende März ist der Baß die treibende Kraft des Dramas: Gesanglich lustig in der Szene mit Ina Bourskayas Marthe Schwerlein, wenn er Helen Olheims Siebel kommandiert, überzeugend im Abschluss des Paktes mit dem alten Faust. Wie immer gelingt es Pinza, mit seiner Stimme zu spielen. Bei dem in Italien geborenen Baß, der sein Instrument so hervorragend beherrschte, bleibt Méphistophélès' Kraft auch noch nach 80 Jahren spürbar.

VI.
Der Valentin war Richard Bonelli, geboren als George Richard Bunn in Port Byron, New York, anvertraut. Wie nur wenige wissen, betrachtete Gounod diese Partie eher als eine Comprimario-Rolle, wobei »Écoute-moi bien« die einzige Konzession einer Solostelle an den Bariton war. Im New York von 1937 wurde allerdings auch Valentins Kavatine »Avant de quitter ces lieux« aus dem zweiten Akt aufgeführt (wie es heute Brauch ist). Bonelli gab eine Probe seiner Kunst, sang durchwegs auf Linie und ließ uns keine der stimmlichen Herausforderungen hören; nicht einmal beim hohen ›g‹. Bonellis Stimme war vom Timbre her heller als die seiner amerikanischen Kollegen Leonard Warren und Lawrence Tibbett. Sie war auch von kleinerem Kaliber als jene letzterer. Doch Bonelli sang eine gute Aufführung. Sänger dieser Art sind wir nicht mehr gewöhnt.

Charles Gounod · »Faust« · Crooks · Jepson · Pinza · Bonelli · Metropolitan Opera&lt ·Wilfred Pelletier · Immortal Performances IPCD 1097-2

Charles Gounod
»Faust«
Crooks · Jepson · Pinza · Bonelli
Metropolitan Opera
Wilfred Pelletier
Immortal Performances IPCD 1097-2

VII.
Die Marguerite der Helen Jepson beeindruckte nicht nur mit einer tadellos gesungenen Arie. Mit Wilfred Pelletiers Unterstützung gelang es Jepson, Marguerites inneren Konflikt hörbar zu machen: die Geschichte des »Roi Thulé« einerseits, ihre persönliche Situation andererseits. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, wo Maria Callas' Erkenntnisse1 betreffend Marguerites »Ah ! je ris« stammen — man suche nicht weiter: Nachdem sie die eröffnenden Triller mit einer heute nicht mehr zu hörenden Mühelosigkeit und dabei Festigkeit ausgeführt hat, »tupft« Jepson das hohe ›gis‹ gleichsam an. Denselben Eindruck hinterläßt das folgende »Ah !” am hohen Sopran-›a‹. Die Sängerin kostete die Fermate auf dem abschließenden, hohen Sopran-›h‹ mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit aus. Als gäbe es heute keine Termine mehr... Es versteht sich fast von selbst, daß Jepson die Phrase mit einem festen, wohltönenden ›e‹ abzurunden vermochte.

Bemerkungen, wonach Jepsons Marguerite nicht an Crooks' Faust und Pinzas Méphistophélès heranreichte, mögen ihre Ursache darin haben, daß ihre Stimme vor allem in der oberen Mittellage und in der Höhe auf­blühte. Man kann jedoch nicht bestreiten, daß Jepson größtenteils sauberes legato hören ließ und so einen Fluß und ein Vorwärtsdrängen erzeugte, welche man in heutigen Aufführungen selten erlebt.

VIII.
An jenem 20. März 1937 wurde Faust vom damals 37-jährigen Richard Crooks gesungen. Der lyrische Tenor hatte zehn Jahre zuvor sein Opern-Debut als Cavaradossi an der Staatsoper Hamburg gegeben. Nach der Rückkehr in die USA wurde Crooks zu einem der Stars der Metropolitan Opera. Seine lyrische Tenorstimme war in der Lage, heraus­ragende pianissimi und piani zu gestalten, ohne ins falsetto wechseln zu müssen. Bis 1937 hatte Crooks eine einzigartige Kunst entwickelt, seine leisen Spitzentöne zur Geltung zu bringen. Einige scheinen fast ohne Kern zu sein. Doch auch sie verfügen über den notwendigen Anteil an Bruststimme.

Will man etwas kritisieren, dann, daß Crooks zu portamenti neigte, wenn die Stimme Höhenregionen zu erklimmen hatte. Nun, ich bin gerne bereit, zu häufigem (doch gekonnt ausgeführtem) portamento zu lauschen, anstatt aufgesetzte, im forte geschrieene Spitzentöne zu ertragen, die allein der technischen Unzulänglichkeiten des Tenors geschuldet sind. Man höre sich das hohe ›c‹ in »Salut ! demure chaste e pure« und den darauffolgenden Abstíeg an: vokale Meisterschaft auf einem Niveau, das heute seinesgleichen sucht.

IX.
In den Begleittexten zur Aufnahme von 1937 schreibt IPRMS-Produzent Richard Caniell über die Herausforderungen, die er während des Restaurierungsprozesses zu bewältigen hatte. Teile der von NBC erhaltenen Bänder erwiesen sich als 1,5 % zu hoch, während Teile von Akt III zwischen 5 % und 1,5 % zu tief waren. Wie man sich vorstellen kann, ist es keine geringe Leistung, diese Art von Korrekturen zusätzlich zum gesamten Wieder­herstellungs­prozess vorzunehmen. Um die Sache zu verschlimmern, hatte jemand auch die Dynamik verändert und die Sänger nach lauten Orchestersequenzen oft in den Hintergrund gedrängt. Caniell bemerkte, daß er den Pegel gelegentlich bis zu 10 Dezibel anheben mußte, um das Klang­gleich­gewicht wiederherzustellen.

Natürlich gibt es auf der Aufnahme immer noch Knistern und Knacksen, unregelmäßiges Hintergrundrauschen und Passagen mit eher dumpfem Klang. Jene, die Dolby Digital-Klang erwarten, werden sicherlich enttäuscht werden. Doch jene, die sich für die Geschichte großen Operngesangs interessieren, werden diesen Schatz sofort als einen solchen erkennen: Er bietet Gesangskunst, welche, zumindest meinem Wissen nach, bis heute unübertroffen ist.

  1. John Ardoin: »Callas at Juilliard. The Master Classes«. Amadeus Press, Portland, Oregon, 1998; ISBN 978-1-57467-042-4, 304 Seiten.

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