Andris Nelsons spielt die Trompetensignale im »Postillon-Galopp«, op. 16/2, von Hans Christian Lumbye bei seinem ersten Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern © Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Andris Nelsons spielt die Trompetensignale im »Postillon-Galopp«, op. 16/2, von Hans Christian Lumbye bei seinem ersten Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern

© Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Silvesterkonzert 2019 der Wiener Philharmoniker

Musikverein Wien

Von Thomas Prochazka

Der Postillon-Galopp, op. 16/2, des Hans Christian Lumbye charakterisierte Maestro Andris Nelsons’ Tun bei seinem ersten Silvesterkonzert trefflich: Der Lette griff für die Postillon-Signale selbst zur Trompete, spielte das einleitende Solo noch von der Seite aus.

Beschränkte sich auf die Trompetensignale, ließ das Orchester frei musizieren — und gickste prompt bei seinem letzten Einsatz, das Malheur mit einem entschuldigenden Lächeln und einer auf das Instrument weisenden Geste überspielend… 

II.
Begonnen hatte der Abend mit der Ouverture zur Carl Michael Ziehrers Operette Die Landstreicher, Bw. 11 in Max Schönherrs Verzeichnis1. Und nach wenigen Takten war einsichtig, warum Maestro Nelsons mit diesem Werk eröffnen wollte: Ziehrers Ouverture bietet einen Querschnitt durch die Melodien der Operette. Nach kräftiger Introduktion erklingen Marschrhythmen. Wie’s (nicht nur) bei Militärkapellmeister Ziehrer Brauch, gibt das Schlagwerk kräftige Lebenszeichen. Damit weiß auch ein dem Wiener Walzer ferne Stehender umzugehen; in den Abend hineinzufinden; Sicherheit zu gewinnen. Als sich erstmals die Walzermelodien im typisch Ziehrerschen Duktus Raum bannten, dacht’ ich noch, das könnte etwas werden. Ich sollte irren.

III.
Auch Josef Strauss’s Walzer Liebesgrüße, op. 56, bot mit seinen elegischen, immer ein wenig wehmütig klingenden Melodien Maestro Nelsons die nächste Möglichkeit zur Annäherung an das Genre: relativ langsame Tempi, kleine ritardandi, dafür aber die für Josef Strauss so typische Melodieführung. Ein frühes Meisterwerk des 1827 geborenen Josef; schon mehr zum Zuhören, weniger zum Tanzen.

IV.
Mit dem Walzer Wo die Citronen blüh’n, RV 364, stand für den zweiten großen Walzer des ersten Teiles Johann Strauss als Compositeur am Programmzettel. Jetzt mußt’ es sich entscheiden…

Nun denn: Der Wiener Walzer kommt Maestro Nelsons nicht nah. Da mochte der längst schon »eingewienerte« Volkhard Steude am Konzertmeisterpult noch so rackern, die Stimmführer sich gegenseitig mit Blicken abstimmen: Wenn die vom Dirigentenpult zu erfolgenden Signale — vor allem bei den Übergängen zwischen den Walzern — ausbleiben, gleichzeitig atypisch langsame Tempi gefordert werden, bleibt’s eine halberte G’schicht’…

V.
Der Wiener Walzer verlangt nach einer bestimmten Tempo-Dramaturgie. Auch in den großen Konzertwalzern. Andantino, also rasch gehend, schreibt die Partitur von Wo die Citronen blüh’n für die Introduktion vor. (Die Walzer selbst tragen ja keine Tempo-Bezeichnung, denn, wie Nikolaus Harnoncourt einmal launig feststellte, weiß jeder Wiener, daß Allegretto das einzige richtige Walzertempo ist. Und die Musiker zu Lanners und Strauss’ und Ziehrers Zeiten wußten es auch. Warum also noch extra eine Tempobezeichnung notieren?) Bei Maestro Nelsons: Molto Adagio — schnellstenfalls.

Manche werden mir zurufen, daß die Relation der verschiedenen Tempi zueinander der entscheidende Faktor ist; nicht jene in der Partitur verzeichneten. Gewiß. Aber nur, solange das Gebotene Sinn macht, die Spannungsbögen über das Stück hinweg gehalten werden können. Das ist bei rascheren Tempi leichter zu bewerkstelligen.

Bei Maestro Nelsons brachen die Spannungsbögen an diesem Abend (zu) oft. Sein Zugang ist ein artifizieller; nicht der natürliche eines Willy Boskovsky oder Clemens Krauss. So waren die ritardandi meist zu stark (wie in den Walzerketten Seid umschlungen, Millionen!, RV 443, oder den Dynamiden, Josef Strauss’ op. 173), dauerte es zu lange, bis die Musik wieder Fahrt aufnahm. An dieser anämischen Lesart krankte auch der Walzer An der schönen blauen Donau, RV 314. Da konnten die Hörner noch so weich anblasen, die Töne ruhig halten: An diesem Abend entfaltete Österreichs heimliche Hymne ihren Zauber nicht.

Selbst im am besten gelingenden Walzer des Abends, Freuet Euch des Lebens, RV 340, blieb Maestro Nelsons Tun Stückwerk, wollten sich die einzelnen Walzer nicht zu einem Ganzen verbinden. Wenn Johann Strauss in genialischer Weise vor der Wiederholung eines Walzerteils eine melodische Gegenbewegung, etwa für die Bläser, die Bratschen oder die Celli notierte, dann mit der Idee, das Momentum in die Repetition mitzunehmen — und nicht durch ein ritardando auszubremsen…

Andris Nelsons bei seinem Silvesterkonzert-Debut am Pult der Wiener Philharmoniker © Wiener Philharmoniker/Terry Linke

Andris Nelsons bei seinem Silvesterkonzert-Debut am Pult der Wiener Philharmoniker

© Wiener Philharmoniker/Terry Linke

VI.
Maestro Nelsons fühlte sich bei anderen Stücken sichtlich wohler: Bei Josef Hellmesbergers Gavotte zum Beispiel (eine Entdeckung!), Johann Strauss’ Blumenfest-Polka, RV 111, der Polka schnell Tritsch-Tratsch, RV 214, oder der ersten Zugabe, der Polka schnell Im Fluge, op. 230, von Josef Strauss. Eine Vorliebe für’s Knallige, Gehetzte, war leider auch in den Märschen und Eduard Strauss’ Polka schnell Knall und Fall, op. 132, nicht zu überhören. Ebenso die Tendenz zum accelerando, wenn’s lauter, und zum ritardando, wenn es leiser werden sollte. Dennoch vertrugen diese Stücke Maestro Nelsons Lesart besser als die Walzerketten — die Säulen eines jedes Neujahrskonzerts.

VII.
Die Konzerte zum Jahreswechsel 2019/2020 sind für viele nicht ohne eine Hommage an Ludwig van Beethoven vorstellbar. Offenbar auch für die Wiener Philharmoniker nicht. Also setzte man eine Auswahl der 12 Contretänze, WoO 14, auf’s Programm. Der siebente der 1801 für kleines Orchester geschriebenen enthält jenes Thema, das später in den Eroica-Variationen, op. 35, dem finalen Allegro der Geschöpfe des Prometheus, op. 43, und dem Schlußsatz der dritten Symphonie in Es-Dur, op. 55, wiederkehren sollten. (Das nenne ich Wiederverwertung!) Das Thema des zehnten Contretanzes erinnert an Mozarts Musik für den Mohren Monostatos… Man merkte: Beethoven steht Maestro Nelsons näher als die Werke der Strauss-Familie. Viel näher.

VIII.
Für den Erfolg dieses Silvesterkonzerts zeichneten in erster Linie die Mitglieder der Wiener Philharmoniker verantwortlich: hochkonzentriert und aufeinander hörend; die Streicher seidenweich aufspielend, die Holzbläser sich ihnen anschließend, das Blech den dirigistischen Forderungen gehorchend. Daß die Qualität des Konzertes jene der Vorjahre mit Abstand nicht erreichte, konnten sie freilich nicht wettmachen. Gewiß, andere Orchester schätzten sich glücklich, diese Musik einmal so zu spielen, wie sie gestern im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins erklang. Doch wer für das Neujahrskonzert dieses Orchesters ans Pult tritt, muß sich, Interpretation hin oder her, mit den Größten messen lassen: mit Carlos Kleiber, mit Willy Boskovsky und mit Clemens Krauss.

Für den nächsten Jahreswechsel scheint es Vorstand Daniel Froschauer übrigens gelungen zu sein, Maestro Riccardo Muti noch einmal ans Pult zu locken. Schön.

  1. Max Schönherr: »Carl Michael Ziehrer. Sein Werk — Sein Leben — Seine Zeit.« Österreichsicher Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst, Wien, 1974; 816 Seiten.

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