Christian Thielemann bei seinem ersten Silvesterkonzert mit den Wiener Philharmonikern © Facebook-Site der Wiener Philharmoniker/Benedikt Dinkhauser

Christian Thielemann bei seinem ersten Silvesterkonzert mit den Wiener Philharmonikern

© Facebook-Site der Wiener Philharmoniker/Benedikt Dinkhauser

Silvesterkonzert 2018 der Wiener Philharmoniker

Musikverein Wien

Von Thomas Prochazka

Das Silvesterkonzert ist — nicht nur seines ½8 Uhr-Beginns wegen — für die musikalisch mit der Angelegenheit Befaßten wahrscheinlich der angenehmste Termin: Die Korrektursitzung für die CD-Veröffentlichung wurde bereits nach der Voraufführung am Vortag absolviert, und die Live-Übertragung steht erst am nächsten Vormittag am Programm. Zeit also, unbeschwert gemeinsam zu musizieren…

II.
Der Abend hob an mit Carl Michael Ziehrers Freiherr von Schönfeld-Marsch, op. 422. Christian Thielemann läßt das Orchester aufrauschen, und binnen Sekunden stellt sich alle Herrlichkeit der k. u. k. Militärmusik ein. Anders als John Eliot Gardiner auf seiner Einspielung atmet Thielemanns Deutung, pulst, gibt es das Bemühen um die mehrmalige Rücknahme des Orche­sters ins pianosubito piano«). Faszinierend, wie leise man auf Trompeten und Posaunen spielen kann… (Wir werden uns dessen beizeiten zu entsinnen wissen.) »Famos«, riefe man gewiß in Berlin, »ganz famos!« (Vastehste.)

III.
Die Zentren jeden Neujahrskonzertes bilden jedoch die Walzer (eigentlich: Walzer-Partien mit zu­meist fünf zweiteiligen Walzern). Um sie herum gruppiert sich alles. Und sie sind es auch, welche über Wohl oder Wehe des Abends entscheiden.

Mag die Programmgestaltung auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen, erschließt sie sich spä­tes­tens zur Pause: Allen Walzer-Partien eignen große Introduktionen. Tonmalereien. Thielemann und die Wiener Philharmoniker wählten klug, entschieden sich für Spätwerke aus Josef und Johann Strauss’ Œuvre. Konzert-, keine Tanzwalzer. 

Bereits in der Einleitung zu den Transactionen, der ersten Walzer-Partie des Abends und das op. 184 von Josef Strauss, spielt Thielemann seine Stärken aus. Modelliert die einzelnen Stimmen. — Immer wieder wird der gebürtige Berliner an diesem Abend hier eine Oboe, da die Kla­ri­nette, dort die Hörner aufblitzen lassen. (Nur die erste Flöte wird sich den ganzen Abend über in den Vordergrund drängen.) Auch den Übergängen zwischen den einzelnen Walzern gilt Thielemanns Fürsorge: äußerst delikat, wenngleich die ritardandi in den Transactionen zu aus­ge­prägt geraten, die Musik an diesen Stellen fast zum Stillstand kommt. 

IV.
Insgesamt bewegt sich dieses Silvesterkonzert eher auf der kräftigeren Seite. Wo Zubin Mehtas In­ter­pretation des Elfenreigen von Josef Hellmesberger jr. 2007 flirrend leicht anhob, läßt Thielemann uns wissen, daß im deutschen Wald der Romantik neben den Elfen auch Faune hausen. Thielemanns Interpretation besitzt — vor allem in der Einleitung und im Hauptthema — mehr Biß. Erinnert mehr an Webers Freischütz und Delibes’ Sylvia denn an Mendelssohnschen Sommernachtstraum. Ohne plump zu wirken allerdings. (Auch darin zeigt sich der Meister.)

V.
Fein modelliert klingen auch die Nordseebilder, RV 3901: Wie Thielemann die Johann Strauss’­schen Naturschilderungen modelliert — sehr gelungen auch hier wieder die Einleitung und der Übergang in den ersten Walzer —, sich Wind und Wellen auftürmen, rechtfertigt sein En­ga­ge­ment allemal. Wie schon Muti im Vorjahr bewegt sich auch Thielemann auf der langsamen Seite, scheint mehr an der Gestaltung denn am tänzerischen Element interessiert. Dieses kommt zu kurz, die doch eigentlich mitreißenden Walzer wollen sich nicht so recht miteinander verbinden. Man merkt die Arbeit.

VI.
Daß Christian Thielemann im Rahmen der Pressekonferenz meinte, er habe nun gelernt, daß es ver­schie­dene Arten der Polka gebe, will ich als Ausdruck Berliner Charmes verstehen. Tatsache ist, Thielemann fühlt sich bei den Schnellpolkas — Express, RV 311, von Johann Strauss, Mit Extrapost, op. 259, von Eduard Strauss — hörbar wohler als bei Johann Strauss’ Lob der Frauen (Polka mazur, RV 315AB/C) oder Josef Strauss’ Die Tänzerin (Polka française, op. 227). Noch erscheint hier Thielemanns Zugang zu zaghaft, zeugt sein Zugriff von zuviel Respekt.

Dafür ist er von der Orchesterleistung im raschen Teil des Csárdás aus der komischen Oper Rit­ter Pásmán, RV 441-[19]-3, so hingerissen, daß er — zum ersten Mal an diesem Abend! — auf das Um­blättern vergißt. Das Ergebnis ist ebenso erstaunlich wie bemerkenswert: Auf einmal ist da jemand in Pannonien angekommen. Es wird Musik gemacht! Dirigent und Orchester werden eins, der Csárdás rauscht auf, wie es authentischer nicht sein könnte. (Für mich der Höhepunkt des Abends.)

Auch Johann Strauss’ Egyptischer Marsch, RV 335, erklingt ohne Zuhilfenahme des Taktstocks. Das tut dem Stück ebenso gut (wir erinnern uns an Lorin Maazels extrovertierte Interpretation von 1986) wie dem an Innigkeit gewinnenden Klang.

VII.
Der Eva-Walzer nach Motiven der komischen Oper Ritter Pásmán, RV 441, bietet vor allem in der Introduktion der Horngruppe Gelegenheit zur Demonstration ihres Könnens. (Warum nur las­sen die Herren in der Oper so selten ihre Kunst hören?) Dieser Walzer kommt auf leisen Soh­len. Ist mehr Tongemälde und Ausdruck der Empfindungen denn Walzer, auch wenn man die Jagd­gesell­schaft in der Einleitung förmlich zu sehen vermeint. Und erlaubt Thielemann wie­derum, seine Stärken auszuspielen.

VIII.
Wer für Musik der Strauss-Familie ans Pult der Wiener Philharmoniker tritt, muß sich an Clemens Krauss und Carlos Kleiber messen lassen. (Denn Kritik funktioniert nur vergleichend, sei es eigener Höreindruck oder Studium der Partitur.) Nun denn: Die ersten zwei, wohl als Höhepunkte nach der Pause gedachten Werke zündeten nicht. Ließen, ebenso wie Josef Strauss’ Walzer Sphärenklänge, op. 235, am Ende des offiziellen Programms das Vor­wärts­drängende des Walzers zu sehr vermissen. 

Sowohl in der Ouverture zur Operette Der Zigeunerbaron, RV 511A/B/C-OU.ABC, als auch im Walzer Künstlerleben, RV 316, wird der ganze Unterschied offenbar: Wo Kleiber bemüht war, jede Stim­me ins Ganze einzuweben, fächert Thielemann den Klang auf, läßt die Stimmen ne­ben­einander stehen. Rudolf von Alts Aquarelle versus Claude Monets impressionistischer Öl­gemälde. … Kleibers Zugang — speziell in der Zigeunerbaron-Ouverture — war viel kom­pro­miß­loser, »fescher«. Ungarischer. Thielemann erreicht diese Stringenz nicht. Sein Zugang ist (noch) von zu großem Respekt geprägt, betont mehr das Lautmalerische. Da waren die retardierenden Elemente zu vorherrschend, die »Eins« zu stark betont, als daß sich mehrere Walzer umfassende Girlanden bildeten. (All das spielt sich allerdings auf sehr hohem Niveau ab. Einem Niveau, welches zu erreichen andere ein Musikerleben lang erfolglos streben.)

IX.
Dieses Silvesterkonzert von Christian Thielemann am Pult der Wiener Philharmoniker: ein lang er­war­tetes, ein viel­versprechendes Debut. Möge nicht zuviel Zeit verstreichen, bis man wieder für die Aufführung von Werken der Strauss-Familie zusammenfindet.
(Es darf ruhig ein Abonnement- oder Sonderkonzert sein. Man ist ja nicht wählerisch.)

  1. Das Rot-Verzeichnis (RV) ist benannt nach Michael Rot, dem Herausgeber der Neuen Johann Strauss Gesamtausgabe, einer wissenschaftlich kritischen Neuausgabe. Im Jahr 1999 erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt, setzte sich die Strauss Edition Wien das Ziel, das komplette Œuvre Johann Strauss’ systematisch zu erfassen. In der Zwischenzeit wanderten die Rechte zum Schott Musikverlag und sind unter dem Namen »Neue Johann Strauss Gesamtausgabe« zusammengefaßt. Die Wiener Philharmoniker übernahmen damals die Patronanz für die Orchesterwerke.

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