Silvesterkonzert 2023 der Wiener Philharmoniker
Musikverein Wien
Von Thomas Prochazka
II.
Die Musik der Strauss-Familie und ihres Umfeldes scheint mir unmittelbar mit der Scholle und den hier Aufgewachsenen verbunden. Sie erwehrt sich der ersten Sturmläufe der » Nicht-Hiesigen «, mögen sie auch in anderem Repertoire als Meister ihres Faches gelten. Diese Wiener Musik: Sie verweigert sich der Offenbarung ihrer Geheimnisse, dem » Rutschen « und dem gerade richtigen ritardando der Auftakte.
Seit 1980 gelang nur zwei Maestri die Hebung dieses Schatzes: Carlos Kleiber und, im letzten Jahr, Franz Welser-Möst. Unbestrittener Genius der eine, schollenverbundener Musikant (im besten Sinne des Wortes) der andere. Christian Thielemann ist teilweise noch Suchender.
III.
Wie vor fünf Jahren der Freiherr von Schönfeld-Marsch, op. 422 von Carl Michael Ziehrer, eröffnete auch diesmal einer der bekanntesten und schönsten Militärmärsche der österreichisch-ungarischen Monarchie den Abend: der Erzherzog Albrecht-Marsch, op. 136, von Karl Komzák II. Selbst wer Titel oder Komponist nicht zu benennen weiß, kennt die Melodien. Thielemann und die Wiener balancierten den Klang, ließen auch die Nebenstimmen, z.B. in den Posaunen, die Trompeten mit ihren Militärsignalen, prominent hören. Und die schwungvolle Interpretation von Hans Christian Lumbyes Galopp Glæigt Nytaar! aus seinem Bal-Bouquet Juul og Nytaar machte Lust darauf, einmal alle vier Teile zu hören.
IV.
Das diesjährige Programm war anspruchsvoll (für jenen Teil des Publikums, der begeistert in eine Pause der Waldmeister-Ouverture hineinklatschte, wohl sogar zu anspruchsvoll), doch klug gewählt. Sowohl die Polka mazur Die Hochquelle, op. 114 des » schönen Edi «, wie auch die vorangestellte Nachtigall-Polka, op. 222 des Walzerkönigs, und dessen Polka française Figaro, op. 320, ließen einzelne Instrumentengruppen glänzen, waren sehr gut abgestimmt. (In dieser Hinsicht zählt Thielemann zu den Meistern.) Einzig der Manierismus, in der Reprise der Figaro-Polka den musikalischen Fluß mit einem großen ritardando quasi zum Stillstand zu bringen, störte.
Joseph Hellmesberger Jr., ehemaliger Konzertmeister und in der Nachfolge Gustav Mahlers einige Jahre auch Dirigent der philharmonischen Abonnement-Konzerte, war mit zwei Werken vertreten: zum ersten mit der Estudiantina-Polka aus dem Ballett Die Perle von Iberien. Die Allgemeine Sport-Zeitung (!) befand nach dessen Uraufführung an der Hofoper: Niemand wird behaupten, daß diese Grundidee sich durch besondere Gescheidtheit auszeichnet.
Interessanter — und für mich musikalischer Höhepunkt des ersten Teiles — war Hellmesbergers » Walzer für Orchester « Für die ganze Welt. Die Walzerpartie folgt einer großangelegten, brahmsisch-romantischen Einleitung (delikat die als Quartett hervortretenden Holzbläser). Dieser Konzertwalzer steht so manchem Pendant Johann Strauss’ nicht nach. Hier war Thielemann, der Klangkathedralenbauer nicht nur bei Anton Bruckner, in seinem Element. Vielleicht auch, weil man in Für die ganze Welt auf die zumeist zu großen ritardandi verzichtete (die im übrigen auch bei den Sträussen nicht in den Partituren stehen), die Walzer schnörkellos aneinanderreihte? Für die ganze Welt jedenfalls ist ein Walzer, den Dirigent und Orchester den philharmonischen Abonnenten und, auf zukünftigen Tourneen, durchaus auch einem größeren Publikum vorstellen sollten.
À propos Anton Bruckner: ein Gustostück’l, dessen ursprünglich für Klavier zu vier Händen komponierte Quadrille, WAB 121. Sie wurde für die Konzerte am Beginn des Anton Bruckner-Jahres 2024 von Wolfgang Dörner für großes Orchester instrumentiert. Der Organist und Komponist aus St. Florian als Tanzmusiker: sichtlich eine Herzensangelegenheit für Christian Thielemann.
V.
Die Walzer Carl Michael Ziehrers scheinen Nichtösterreichern leichter von der Hand zu gehen als jene der Strauss-Dynastie. Ziehrer komponierte seine Wiener Bürger, op. 419, als Tanzwalzer. Er wurde vom Militärkapellmeister mit seinen » Hoch- und Deutschmeistern « am 12. Feber 1890 beim ersten » bürgerlichen Hofball « im Neuen Wiener Rathaus uraufgeführt. Johann Strauss’ Rathausball-Tänze, op. 438, und dessen jüngeren Bruders Eduard Polka Das tanzende Wien gerieten in Vergessenheit. Ziehrers Wiener Bürger mit der im 6⁄8-Marschrhythmus auf- und abziehenden Bürgerwehr und der genialen Einleitung, der ¾-Taktvorgabe in den tiefen Streichern und den aufrauschenden Walzern, kennt heute noch jeder Ballbesucher.
Bei Ziehrer laufen die einzelnen Walzerteile ohne ritardandi » durch «. Das garantiert unbeschwerte Tanzseligkeit. Genial des Militärkapellmeisters musikalische Feinheiten mit dem Oktav-, großem Septim- und kleinem Septimsprung im B-Teil des ersten Walzers, die hervortretende Harfe, die Gegenstimmen zur Melodie … Größter Jubel des Abends nach einem der schönsten Tanzwalzer.
VI.
Das Stöbern in den Strauss-Archiven förderte heuer Johann Strauss’ Ischler Walzer, op. posth. 2, zutage; eine willkommene Erweiterung der philharmonischen Diskographie. Der Ischler Walzer entpuppt sich beim ersten Hören im Konzertsaal als gediegene Handwerksarbeit, doch ohne die originellen Motive von Strauss’ besten Werken der Gattung. Trotz Maestro Thielemanns und des Orchesters Bemühungen, trotz akkurat gegeneinander gestellter Motive in den einzelnen Instrumentengruppen wird das nicht grundlos als Nachgelassener Walzer Nr. 2 bezeichnete Musikstück wohl auch weiterhin nur für Strauss-Forscher und -Sammler von Interesse sein.
VII.
Sowohl des Walzerkönigs Wiener Bonbons, op. 307, als auch Bruder Josephs Walzer Delirien, op. 212, waren sorgfältig gearbeitet, überzeugten wohl die meisten mit dynamischen Abstufungen, wie man sie vielleicht nur in Wien hören kann. Doch fehlte mir zuweilen das Urspüngliche, das Überschäumende dieser Musik.
Immer wieder verweilte Christian Thielemann zu lange auf den von den Brüdern zwischen die Walzerteile gesetzten Achtelpausen. War mir zu zögerlich beim Eintritt in den jeweils nächsten Walzer. Derart ausgeprägte ritardandi bzw. zu langes » Hineinschleichen « hemmen den musikalischen Fluß. Daß sie die Strauss-Interpretation vielerorts (bzw. gerade bei den Konzerten zum Jahreswechsel) seit Jahrzehnten prägen; daß die Walzer insgesamt langsamer gespielt werden als noch zu Clemens Krauss’ Zeiten, ändert nichts an diesem Befund. Manchmal, scheint mir, vergessen wir, daß der Walzer seinen Anfang in den Vorstädten und im Böhmischen und Wiener Umland nahm.
Vielleicht sollte sich wieder einmal ein Maestro trauen, zu den Wurzeln dieser Musik zurückzukehren und keine ritardandi anzuzeigen, sondern das Orchester einfach sich zusammenfinden zu lassen. Vielleicht bedarf es auch der Abkehr von den (zu) akkuraten Einsätzen zurück zum vermehrten Gebrauch des von den Toningenieuren gehaßten » Rutschens «, des von Richard Strauss im zweiten Finale des Rosenkavalier notierten süßlichen Wiener glissando
?
VIII.
Die Höhepunkte des Abends waren mir die Ouverture zur Operette Waldmeister, RV 515-OU, und die Einleitung zum Walzer An der schönen blauen Donau, op. 314. Tonmalerisch glänzte bei der heimlichen Hymne Österreichs vor dem inneren Auge die Sonne im Blau des Stromes an einem heiteren Maitag, mit Blick auf die Wiener Pforte und den Wienerwald …
Die Operette Waldmeister spielt in einer sächsischen Kleinstadt. Die gleichnamige Bowle bringt nach Verwechslungen die Liebespaare nach einer Jagdpartie zueinander. Wer den Blick über die Elbe auf den Dresdner Zwinger, das Schloß und die Brühl’sche Terrasse kennt, wird einzelne Melodien unschwer mit diesem Blick assoziieren. Maestro Thielemann und die Wiener Philharmoniker ließen dieses Dresden in der Ouverture tonmalerisch erstehen, klangliche Reminiszenzen an die kurfürstliche Jagd (die Horn-Stellen!) inklusive. Zudem schrieb Strauss nur gemächliches Walzertempo
vor. So eilig schien man’s zu seinen Zeiten in Sachsen also nicht gehabt zu haben. Selbst der dem Finale zustrebende Allegro-Teil erklang — wie schön! — lange nicht so gehetzt wie 2014 unter Daniel Barenboims Leitung.
IX.
Thielemann-Fans werden mit mir hadern, allein: Zum Walzermusikanten ist’s noch ein Stück’l hin.