
»Elektra«: Tanja Ariane Baumgartner (Klytämnestra) und Aušrinė Stundytė (Elektra) in der Wiederaufnahme der Produktion aus dem Jahr 2020 von Krzysztof Warlikowski (Regie) und Małgorzata Szczęśniak (Bühne und Kostüme)
© Salzburger Festspiele/Bernd Uhlig
Richard Strauss: »Elektra«
Salzburger Festspiele
Von Thomas Prochazka
Vortrefflich gelangen an diesem Abend vor allem die lyrischen Momente. Auch Elektras Tanz. Die von Strauss stimmschonend immer wieder geforderten, raschen Dynamikwechsel ins piano oder pianissimo: zu weich. Zu entspannt. Stellenweise war mir das »Biest« im Orchestergraben zu zahm. Immer noch. Dennoch: Differenzierung. Kein »Lärm«; sondern Kammermusik für mehr als 100 Musiker.
II.
Keine Frage, die Torheiten von Krzysztof Warlikowski (Regie) und Małgorzata Szczęśniak (Bühne und Kostüme) blieben auch bei der Wiederaufnahme solche.
Hofmannsthal und Strauss kannten Aischylos’ Orestie. Dürfen wir also annehmen, daß sie Klytämnestras Verteidigungsrede bewußt aussparten? Nicht so Warlikowski, der Szczęśniak auf den mit Brettern verschlagenen Arkaden der Felsenreitschule groß »Klytämnestra« einzublenden hieß. Tanja Ariane Baumgartner hinter ein Mikrophon(!) bat und sie den Monolog hersagen ließ. Hektisches Geschrei trat an die Stelle ausformulierter Deklamation. Der gewünschte Effekt (welcher?) ließ sich nicht erhaschen. (Und überhaupt: Müßte eine ausgebildete Opernstimme nicht im Stande sein, den bespielten Raum ohne akustische Verstärkung zu beschallen?)

»Elektra«: Aušrinė Stundytė (Elektra) und Christopher Maltman (Orest)
© Salzburger Festspiele/Bernd Uhlig
Wenn die Erste Magd die Frage nach Elektras Verbleib stellt, diese jedoch bereits auf der Bühne weilt: Fällt solches in die Kategorie »künstlerische Freiheit«? Oder Desinteresse eines Spielvogtes an der Partitur? Wenn Chrysothemis nach ihrer ersten Szene dasteht; die Hände lässig in die Taschen ihres billigen Kunstlederminirocks geschoben, als bespräche sie mit ihrer Schwester die Belanglosigkeiten des Tages: Haben dann wir etwas nicht begriffen von der Niedergeschlagenheit dieses Menschenkindes; der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihres Schicksals? Oder der Spielvogt?
Wenn das, von dem im Gesang die Rede geht, gleichzeitig projiziert und/oder in dem mitten auf der Bühne aufgebauten Glasquader vorgestellt wird: Ein Entgegenkommen Warlikowskis? Zwang zur Bebilderung von allem und jedem? Sublimer Hinweis auf die mangelnde Bereitschaft eines Teiles des Publikums, zuzuhören? Versuch der Abhilfe begründet in der Textundeutlichkeit der meisten Sänger?
Wenn beim Spielvogt Warlikowski Chrysothemis anstelle von Orest Aegisth ermordet: Befinden wir uns dann noch bei Hofmannsthals und Strauss’ Elektra? Wer solches bejaht, wird Antwort stehen müssen, weshalb nur Orests Fall vor dem Aeropag verhandelt wurde; Chrysothemis unbehelligt davon kam. Andernfalls: Regisseur-Theater vom Feinsten.
Im mindesten aber: Torheiten. Torheiten allerorten. (Ich sagte dies bereits.)
III.
Lotte-Vera Boecker übernahm kurzfristig die Partie der Fünften Magd. Machte ihre Sache gut. Wurde von Franz Welser-Möst fürsorglich geleitet. (Wie der Dirigent auch seine Elektra umsorgte.)
Michael Laurenz sang/deklamierte den Aegisth mit klar vernehmbarer Stimme. Ich verstand jedes Wort. Nicht: jede Silbe. (Darin ist ein Unterschied.)
Tanja Ariadne Baumgartner, die Klytämnestra, hatte ich aus dem Vorjahr stärker in Erinnerung. Fester; stimmlich kompakter. An diesem Abend: stimmliche Anlaufschwierigkeiten im Duett (Duell?) mit Elektra. Einige Unsicherheiten. Diese Szene, wiewohl auch heuer wieder die eindrücklichste, sah sich der Konkurrenz jener des gegenseitigen Erkennens des Geschwisterpaares ausgesetzt.
Christopher Maltman hinterließ als Orest einen ähnlich günstigen Eindruck wie sein Rollenvorgänger: eine tragende Stimme. Textdeutlich. — Einwände? Auch den Orest kann man legato singen. (Strauss’ Notation ermöglicht solches.) Und bei manchem lang zu haltenden Ton hörte ich übergroßes Vibrato: Zeugnis von Maltmans Karriere.

»Elektra«: Die Schwestern Elektra (Aušrinė Stundytė) und Chrysothemis (2021 neu: Vida Miknevičiūtė)
© Salzburger Festspiele/Bernd Uhlig
IV.
Vida Miknevičiūtė war mehr Chrysothemis als ihre Rollenvorgängerin. Weiblicher. Überzeugte gesanglich mehr als die Elektra von Aušrinė Stundytė. Mit lauter Stimme allerdings, anstelle großen Tons. Unbalanciert; des öfteren unverständlich: die Tiefe! Die Höhe! (Ich kann’s nicht ändern.) Über weite Strecken unebene Tongebung (kein legato); wenig vokal Zwingendes, doch: viel Vokalarbeit. Der Name Camilla Nylund setzt das Argument der Hofmannsthalschen Forderung nach dem »Höchsten« außer Kraft; — selbst im Heute. Viel mehr noch in der Salzburger Festspielgeschichte.
V.
Aušrinė Stundytė stand, wie schon im Vorjahr, als Elektra auf der Bühne der Felsenreitschule. Warlikowskis Bühnen-Hokuspokus liegt ihr besser als die von Harry Kupfer für Wien ersonnene, zwingendere Interpretation. Dennoch: Stundytės stimmliche Überforderung ward bereits mit dem ersten »Agamemnon!«-Ruf hörbar. Zuwenig Tragfähigkeit ihrer, (meiner Meinung nach) von der Anlage her lyrischen Stimme. Es fehlte am stimmlichen Fundament: scharfe Höhen, geringe Textverständlichkeit, kleines Volumen im unteren Register. (Sie sind halt doch Schwestern.)
Diese Elektra stirbt ihren stimmlichen Tod weit vor dem Ende des Abends.
VI.
Viel taubes Vokalgestein also in Mykene.