» Manon Lescaut «, 1. Akt: Anna Netrebko in der Titelpartie © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Manon Lescaut «, 1. Akt: Anna Netrebko in der Titelpartie

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giacomo Puccini:
» Manon Lescaut «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Die Schlacht ist geschlagen (auch jene um Manon). Die Produktion von Robert Carsen darf zurück ins anheimelnde Dunkel des Depots. Herzenswunsch nach dieser Wiederbegegnung: Möge sie dort ruhen bis in alle Ewigkeit.

II.
Denn Robert Carsens 2005 geschaffene Produktion (Ausstattung: Anthony McDonald) führt exemplarisch vor, wie rasch angeblich » aktuelle «, heutige Sichtweisen aus der Zeit fallen. Der damalige dernier cri ist zur Lächerlichkeit verkommen, wenn ein cliché das vorhergegangene jagt. Was damals trés chic war, mutet uns heute nicht einmal mehr banal an.

Im ersten Akt fand sich der Staatsopernchor (der — im Original — Schaulustigen in der Poststation von Amiens) zu einem Flash-Mob zusammen, der sich so peinlich präsentierte, daß, besäße der Sender MTV eine solche Szene in seinem Archiv, er diese schnellstens löschte. Es geht eben nichts darüber, die Kunstform Oper für die heutige Jugend aufzubereiten: Für eine Jugend, welche die Bühnen-Shows von Beyonce und Taylor Swift gesehen hat …

Die Kaufhaus-Passage, die ausgestellte Mode mit den weiten volants, der Gegensatz zur präsentierten haute couture: im zweiten Akt von Manon, im dritten als défilé der nach Amerika zu verschiffenden, » leichten Mädchen «; die Deportation nach Amerika, auch 2005 für viele immer noch Wunschziel und » gelobtes Land «: Bereits zur Première triumphierte Unglaubwürdigkeit, obsiegte eine schlechte Arnulf Rainer’sche Übermalung über das Original.

Am besuchten Abend bewegte sich der Lexus des Geronte noch, nachdem der Fahrer bereits ausgestiegen war: peinlich. Dieses Automobil: 2005 eine Luxus-Limousine, 2023 nur mehr altmodisch in seinem Design, ohne jede Aussicht auf einen Platz im Olymp. Wie modern (weil zeitlos) mutete uns da eine Postkutsche an — zumal Puccini nach Manons und Des Grieux’ Flucht das Schellengeläut der Postpferde in die Partitur schrieb.

Carsen erzählt eine andere Geschichte als jene des Librettos: Obrigkeit, Wachen und Militär gibt es keine, dafür die Selbstjustiz des (eigentlich das Amt eines Steuerpächters bekleidenden) Geronte di Ravoir und seiner Bande bzw. security, wie man solches heute heißt. Wer sich darüber wundert, daß ein Steuerpächter darüber entscheidet, wer nach Amerika deportiert wird, darf sich als von Axel Brüggemann bezeichnete Klientel der › sterbenden Generation ‹  fühlen. Diese Klientel lehne derartige Aktualisierungen in einem wütenden Kampf gegen den strukturellen Wandel ab. (Doch will mir scheinen, daß, wer ein Libretto sinnerfassend zu lesen vermag, im Vorteil sei.) So also stellte Evgeny Solodovnikov auch den Commandante des Schiffes vor. Da verwundert es kaum noch, daß Manon von endloser Weite der Prärie singt, während sie in einer mit Müll übersäten Kaufhaus-Passage ihr Leben aushaucht.

III.
Auch musikalisch erreichte die Aufführung kein besonderes Niveau. Das lag zum einen an den Sängern, welchen es am erforderlichen stimmlichen Kaliber für ihre Partien mangelte, zum anderen an Jader Bignamini. Der Dirigent des Abends forderte vom Staatsopernorchester allzu oft zu lautes Spiel oder vermochte das Häuflein der Daheimgebliebenen (die Wiener Philharmoniker geben aktuell in Japan Konzerte) nicht zu zügeln. Am besten gelang das den dritten Akt eröffnende Intermezzo. Jedenfalls hatten die Sänger streckenweise ihre liebe Not, im Parterre hörbar zu bleiben, trotz Mobilisierung ihrer Kraftreserven.

IV.
Davide Luciano schonte seine Stimme nicht und lieferte die Einwürfe Lescauts mit kräftigem Bariton. Es ist eine undankbare Partie und schwer, viel daraus zu machen. Puccini bedachte diesen Part — im Gegensatz zu Jules Massenet — musikalisch und gesanglich vornehmlich mit generischen Baritongesten, einzig gesegnet mit einem kleinen Arioso gleich zu Beginn.

Der Edmond des Carlos Osuna mußte sich als Fotograf verkleiden. Im Überschwang, Manon und Des Grieux zur Flucht nach Paris zu verhelfen, lud er auch Manons Köfferchen wieder aus dem Kofferraum des Lexus. (Die Schellen der Postkutsche, wir erinnern uns.) Stimmlich rollendeckend.

Evgeny Solodovnikov war weniger Geronte di Ravoir, der Steuerpächter, als ein russischer Oligarch beim fortgesetzten Versuch, sich auf Italienisch zu verständigen. Rauh klang da vieles; und grobschlächtig. Einzig der Wesenszug Gerontes, aus dem Weg zu räumen, was sich in diesen stellt, wurde nachvollziehbar. Wohin sind die Zeiten, als Besetzungsbüros für diese Partie noch erste Baritone engagierten? Wo Größen wie Fernando Corena, Salvatore Baccaloni oder, selbst im Abendrot seiner Karriere, Giuseppe Taddei ernsthafte Widerstreiter Des Grieux’ waren? Solcherart lieblos besetzt, gerät Puccinis erster uneingeschränkter Premièren-Erfolg in arge Schieflage; verkommt zu zusammengestoppelten Abenden, welche das Potential des Werkes nicht auszuschöpfen vermögen.

» Manon Lescaut «, 1. Akt: Evgeny Solodovnikov (Geronte di Ravoir) und Davide Luciano (Lescaut) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Manon Lescaut «, 1. Akt: Evgeny Solodovnikov (Geronte di Ravoir) und Davide Luciano (Lescaut)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Joshua Guerrero ward kurzfristig als Chevalier Des Grieux aufgeboten. Seine Leistung entsprach den Erwartungen: Wie bereits als Luigi in Il tabarro in Salzburg und, vor Wochen erst, auch in Wien, ließ Guerrero auch an diesem Abend angestrengte und nicht gedeckte Höhen hören. Immer wieder fürchtete eines um das Gelingen der Spitzentöne. Wo Franco Corelli und Mario del Monaco mit jenem Stimmklang betörten, der oft als » metallisch « beschrieben wurde, präsentierte sich des Amerikaners Stimme breit geführt. Außerdem forcierte Guerrero oft. Darob verlor sich der Stimmfokus. Dieser Chevalier Des Grieux schien mit den gesangstechnischen Schwierigkeiten seiner Partie zu sehr beschäftigt, als daß Zeit blieb für theatralische Gestaltung; weder mit der Stimme noch im Spiel. (Chevalreske Werbung in homöopatischen Dosen.) Ich fand diesen Des Grieux seiner Manon gegenüber seltsam reserviert; — wie auch sie ihm gegenüber. Geradeso, als ob beide zu sehr mit ihren Rollen beschäftigt wären.

VI.
Kein Zweifel, die Manon Lescaut der Anna Netrebko war die Attraktion des Abends. Kein Zweifel, ihre ersten Phrasen gaben Ahnung davon, was man einst unter für die Oper ausgebildeten Stimmen verstand. Kein Zweifel auch, daß Netrebkos Stimme teilweise, vor allem in der oberen Mittellage, immer noch fesselt, verführt, berührt. Kein Zweifel aber auch, daß diese Sonne nach einer immerhin schon mehr als ein Vierteljahrhundert währenden Karriere erloschen ist. Heute wehen uns noch die letzten wärmenden Strahlen am Ende ihrer Reise an. Es waren die Turandots und Lady Macbeths, die Verdi-Leonoras und Toscas, durch die Netrebko pflügte, welche dieser einst lyrischen Sopranstimme über Gebühr zusetzten. Doch die Narben, hörbare Zeichen manch stimmlichen Gefechts, verhindern nun die Rückkehr zu einer Violetta oder einer Mimì in der langen Linie der großen Rollenvorgängerinnen.

Die Partie der Manon Lescaut ist heimtückisch. Kaum einmal erfordert die Gesangslinie die alleinige Aktivierung des Brustregisters, doch enden viele Abstiege in der Sext oberhalb des passaggio. Dort, wo, um die Klarheit des Tones zu erhalten, die Beimischung der Bruststimme erforderlich ist. Netrebko ging in den letzten Jahren (und mit dem Wildern in ihrem Kaliber nicht entsprechenden Gehegen) vermehrt dazu über, die Vokale über dem passaggio abzudunkeln, ihre Stimme größer erscheinen zu lassen als sie ist. Als Folge davon klingen die Spitzentöne oft wie aufgesetzt und verebbt die Stimme, des fehlenden Unterfutters wegen, bei den Abstiegen. (Ich sagte dies bereits.) Beispielhaft dafür sei die Schlußsequenz von In quelle trine morbide angeführt: Wo Licia Albaneses Stimme (selbst im Alter und mit unüberhörbarem Verschleiß in der unteren Oktave) im Mitschnitt aus dem Metropolitan Opera House, New York, (31. März 1956) noch kompakt und geschlossen klingt, hauchte Netrebko die letzten Silben. Und wird dennoch einer vorgeblichen » pianissimo-Kultur « wegen gerühmt, welche in Wahrheit das fehlende stimmliche Kaliber cachiert: ökonomisches Singen at its best.

VII.
Eine Nicht-Vortellung: Jeder tat sein Bestes, doch sang und agierte man nebeneinander. Aber aus den Teilen fügte sich kein Ganzes.

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