»Das verratene Meer«, 4. Szene: Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda und Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Das verratene Meer«, 4. Szene: Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda und Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Hans Werner Henze:
»Das verratene Meer« (Stream)

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Jossi Wieler und Sergio Morabito zeigten vor einer leeren Wiener Staatsoper ihre Version zur Musik von Hans Werner Henze. Betrachtungen anhand des Streams vom 21. Dezember 2020.

II.
Henzes Musik für seine am 5. Mai 1990 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführte Oper erinnert in manchen Passagen an Bergs Lulu, in anderen an Gottfried von Einem. Das Zwingende eines Dantons Tod erreicht sie nicht; Der Besuch der Alten Dame liegt da schon eher in Reichweite. Die Führung der Gesangslinien neigt sich eher dem Melodischen zu. Mehr Schweigsame Frau denn Orffs Carmina Burana. Durchaus singbar; durchaus anhörbar.

Das Libretto von Hans-Ulrich Treichel gliedert das Werk in 14 Szenen und zwei Teile: »Sommer« und »Winter«. Treichel adaptierte dafür Yukio Mishimas 1963 erschienenen Roman Gogo no eiko (zu deutsch: »Der Seemann, der die See verriet«). An der Wiener Staatsoper kam eine eigene Fassung zur Aufführung, welche sich an der überarbeiteten von 2005 orientierte, jedoch einige Striche wieder öffnete. (Es wäre ja auch zu einfach gewesen, den letztgültigen Willen des Komponisten zu respektieren.)

III.
Das rund zweistündige Werk besteht aus einem kurzen Vorspiel und Verwandlungsmusiken zwischen den Szenen. Nachklänge an das eben Gehörte. (Wir kennen das nicht nur aus Die Frau ohne Schatten.) Die Instrumentation klingt — zumindest in Simone Youngs Lesart — nicht so überbordend, wie man vielleicht annehmen wollte. Immer wieder schieben sich expressive Klänge in den Vordergrund (unterstützt durch eine große Schlagwerkgruppe, angereichert mit japanischen Instrumenten wie dem O-Daiko). Doch Henze wußte um die Notwendigkeit zu innigeren Momenten, ohne seine Zeit zu verleugnen. Und die war — nein, ist immer noch! — eine der Herrschaft des musikalischen Intellekts, des Zurückdrängens der Melodie. Ein Pyrrhussieg.

IV.
Das verratene Meer kommt gleich der Ariadne auf Naxos ohne Chor aus. Die einzige weibliche, zugleich eine Hauptrolle ist jene der Fusako Kuroda, gesungen von Lotte-Vera Boecker. Fusako ist 33 Jahre alt, Witwe und Mutter eines 13-jährigen Sohnes, Noboru. Sie wohnt — zumindest steht’s so im Textbuch — in einem kleinen, im westlichen Stil errichteten und eingerichteten Haus auf dem Yado-Hügel in Yokohama. Seit dem Tod ihres Mannes vor acht Jahren betreibt sie die ihren Kunden französische Mode offerierende Boutique allein.

Bei einem Besuch der »Rakuyo-Maru«, eines Frachtschiffes, lernt sie Ryuji Tsukazaki, den Zweiten Offizier, kennen. Die beiden verlieben sich ineinander. Das Auftauchen Ryujis wird von Noboru mit Eifersucht beantwortet. Die bereits vorher gestörte Beziehung zwischen Mutter und Sohn verschlechtert sich weiter. Während Fusako und Ryuji eine gemeinsame Zukunft planen, der Offizier der See Lebewohl sagen will, beschließt die Jungenbande der Freunde Noborus, Ryuji seines Verrats an der See willen in ihr Club-Haus, das »Trockendock«, zu locken und zu ermorden.

»Das verratene Meer«, 2. Szene: Josh Lovell (Noboru), Vera-Lotte Boecker (Fusako Kuroda) und Bo Skovhus (Ryuji Tsukazaki) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Das verratene Meer«, 2. Szene: Josh Lovell (Noboru), Vera-Lotte Boecker (Fusako Kuroda) und Bo Skovhus (Ryuji Tsukazaki)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Die Rezension eines Opernabends auf Basis einer Übertragung ist mit einigen Unwäg­bar­keiten behaftet. (Prinzipielles darüber bald einmal an anderer Stelle.) In den Zeiten von COVID-19, in welcher Banausen kulturelles Interesse als Verliebtheit abtun, bleibt solches Tun leider die einzige Möglichkeit der Berichterstattung, wenn man nicht zu den Günstlingen zählt, die trotzdem Einlaß finden ins dunkle Staatsopernrund. Doch läßt sich mit einiger Erfahrung auch solchen Abenden einiges ablauschen.

VI.
Vera-Lotte Boecker in der Partie der Fusako Kuroda überzeugte vor allem, wenn sich ihr Sopran in der mittleren Lage aufhalten durfte. Den hohen Tönen haftete immer etwas Ungedecktes an. Die untere Stimmfamilie präsentierte sich wenig eindrucksvoll. Gleichzeitig schien Boecker mit viel Kraft zu singen, als wollte sie einen Kampf mit dem (durchwegs nicht immer lauten) Orchester ausfechten. Doch eine gut sitzende Stimme trägt ohne Dauer­anstrengung. (Die den Sänger doch nur vor der Zeit ermüden läßt.)

Wenn wir Hans Werner Henzes Behandlung der Gesangsstimmen etwas »Straussisches« zugestehen wollen (und das ist mit dem Hinblick z.B. auf den Rosenkavalier durchaus als Kompliment gemeint), dann sollten wir uns auch gewärtig sein, daß es der Straussschen Stimmtugenden bedarf, um die Partie der Fusako bestmöglich zu präsentieren. Diese Tugenden stehen in der Tradition Richard Wagners; und damit letztendlich der Italiener. Die wichtigsten sind portamento und legato. Doch genau daran mangelte es.

Josh Lovell spielte Noboru, den 13-jährigen Sohn Fusakos und die Nummer Drei in der Jungenbande, sicher mit allem Ernst seiner jungen Karriere. Doch das wichtigste Ausdrucks­mittel, die Stimme, präsentierte sich, zumal wenn es über das passaggio in die Höhe ging, eng und unfrei. Angestrengt. Daß der kurze musikalische Einwurf des Schiffs­maats von Jörg Schneider überzeugender klang, einem eher im Gedächtnis blieb als Lovells stimmliche Bewältigung seiner Partie, sollte zu denken geben.

Ryuji Tsukazaki, der Zweite Offizier, wird im Textbuch als Baßpartie angegeben. Nun, Baß ist Bo Skovhus keiner. Und doch fand er Mittel und Wege, uns Ryuji nahezubringen. Allerdings griff auch Skovhus zur Untugend der Überartikulation, fühlte sich im Deklamatorischen wohler als im rein Gesanglichen. In manchen Passagen (vor allem im letzten Bild) trug die Stimme nicht immer wie gewünscht. Auffällig: Wann immer ein Ton länger zu halten war, die höheren Stimmregionen zu erklimmen, wurde Skovhus’ Gesang lauter, das Vibrato stärker. Dennoch eignete seiner Stimme eine Prägnanz, die seine Kollegen nicht erreichten.

Die Nummer Eins, der Anführer der Jungenbande, wurde von Eric Van Heyningen überzeugend gespielt und gesungen. Selbstverständlich wäre auch von ihm besseres Binden der Silben zu wünschen gewesen. Doch warum vom Sänger einer Nebenpartie erwarten, was die Hauptrollensänger schuldig blieben? Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler komplettierten die Bande ohne Auffälligkeiten.

»Das verratene Meer«, 10. Szene: Vier Mitglieder der Jungenbande: Kangmin Justin Kim, Josh Lovell, Stefan Astakhov und Martin Häßler © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Das verratene Meer«, 10. Szene: Vier Mitglieder der Jungenbande: Kangmin Justin Kim, Josh Lovell, Stefan Astakhov und Martin Häßler

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Überall dort, wo »Jossi Wieler & Sergio Morabito« draufsteht, ist zumeist auch Anna Viebrock drinnen. (Und nein, das »&«-Zeichen für diese »Firma« ist kein Versehen, sondern eine wortwörtliche Übernahme des Vorspanns des Streams.) Viebrock entwarf die Kostüme und das Bühnenbild (Licht: Phoenix). Ein Einheitsbühnenbild.

Links begrenzte ein rund ein Drittel in die Bühne ragendes Geländer, wahlweise für eine Pier oder einen Aussichtspunkt auf den Hafen verwendet, die Spielfläche. Ein, zwei Holzbänke bildeten die einzigen Möbel. Rechts tat es ein hölzerner Bock. Dahinter, an dem als Wand ebenso wie als Schiffsrumpf dienenden Abschluß der Spielfläche, standen eine große Holzkiste, mit bereits verschmutzter, abblätternder Farbe, und ein Stapel leerer Paletten. Eine kleine Auslage mit einer Tür sollte wohl auf Fusakos Boutique hinweisen, zumindest deutete das die Leuchtreklame darüber an. Im Dunkel des mittleren Bühnenhintergrundes befand sich ein Gebäude mit einem Rolltor. Durch dieses schufen die Sänger ihre Requisiten (ein Bett, Kleiderschränke, eine Vitrine) auf und von der Bühne. Weniges nur wurde automatisch bewegt. Die ganze Arbeit vermittelte den Eindruck einer low budget-Produktion der freien Opernszene mit beschränkteren finanziellen Mitteln. Bemüht, aber ärmlich.

VIII.
Bei den Kostümen folgte Anna Viebrock in vielem den Anweisungen in der Partitur bzw. dem Textbuch: Als Fusako und Ryuji am Neujahrsmorgen dem Sonnenaufgang über Yokohama zusehen, trägt sie — Hosen. Dazu »einen Kaschmirsweater und einen bunten Skipullover, ihren wollenen Mantel hat sie über die Schultern gehängt«. Hans-Ulrich Treichel zeichnete Fusako mehr als einmal als Frankophile, als vermögende Besitzerin einer internationale Kunden bedienenden Boutique. Dies als vernachlässigbar abzutun bedeutete, die durch das Wunder der Liebe unbedeutend gewordenen Standesunterschiede zwischen der gut situierten Fusako und dem Seemann Ryuji zu ignorieren. Den Figuren etwas von ihrer Größe zu nehmen. (Heute darf ja kaum mehr etwas überlebensgroß sein auf unseren Opernbühnen; der gewünschten Identifikation des Publikums mit dem Stoff wegen.)

Interessant, daß Treichel die Kostüme so wichtig schienen: Immer wieder finden sich im Textbuch detaillierte Angaben: das Pariser Sommerkleid Fusakos, mit Sonnenschirm (doch bei Viebrock ohne Hut). Ihr spitzenbesetzter Kimono aus dunkelroter Seide; — bei Viebrock mit schwarzen Pumps kombiniert: eigentlich undenkbar, selbst im Japan des 21. Jahrhunderts.

Leider ließ Viebrock trotz einigem Bemühens nicht bei allen Kostümangaben dieselbe Aufmerksamkeit walten: Ryuji Tsukazaki ist Zweiter Offizier der »Rakuyo-Maru«. Sollte man da als Kostümbildner nicht wissen, daß vier Streifen auf einer Uniformtresse dem Kapitän vorbehalten sind? Noborus Schuluniform wird als schwarze Hose und weißes, kurzärmeliges Hemd sowie einer Schirmmütze beschrieben. Warum trägt Josh Lovell dann ein schwarzes Hemd (und keine Schirmmütze)? Man mag das als Kleinigkeiten abtun, als Nebensächlichkeiten: Sie sind es nicht. Sondern Ausdruck der Ideenwelt und Vorstellungskraft der alleinigen Schöpfer eines Werkes: des Librettisten und des Komponisten. Und man darf annehmen, daß sich diese etwas dabei dachten.

»Das verratene Meer«, 1. Szene: Die (eigentlich in dieser Szene gar nichts auf der Bühne zu suchen habenden) Mitglieder der Jungenbande Erik Van Heyningen, Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler sowie Noboru (Josh Lovell) und Vera-Lotte Boecker (Fusako Kuroda) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Das verratene Meer«, 1. Szene: Die (eigentlich in dieser Szene gar nichts auf der Bühne zu suchen habenden) Mitglieder der Jungenbande Erik Van Heyningen, Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler sowie Noboru (Josh Lovell) und Vera-Lotte Boecker (Fusako Kuroda)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IX.
Daß Jossi Wieler & Sergio Morabito auch von Hans Werner Henzes erst 30 Jahre alten Oper behaupten würden, daß diese Partitur »den Gegenwartsbezug des Theaters nicht mehr sichern« könne, sondern ihrerseits »auf ihre szenische Neuinterpretation« angewiesen sei1: Es sollte uns nicht wundern.

Das Vorspiel erklingt jedenfalls bei geöffnetem Vorhang. Anstatt uns in den Abend einzuführen, auf die erste Szene im Haus Kuroda vorzubereiten, in der der pubertierende Noboru seiner Mutter durch ein Loch in der Schrankwand beim Auskleiden und der abendlichen Körperpflege zusieht, finden wir uns im zweiten Teil, im Winter, nach dem erfolgten Mord der Jungenbande an Ryuji. Überhaupt sind die Orte der Handlung aufgehoben, einzig ein paar Versatzstücke werden auf und von der Bühne geschoben. Weder wird uns Fusakos Haus mit seiner westlichen Einrichtung gezeigt noch der Park auf dem Yado-Hügel mit dem Blick auf den Hafen. In der ersten Szene schläft Noboru im Bett, Fusako wenige Meter daneben auf etwas, was sich später als Vitrine ihrer Boutique herausstellen wird — in einer Szene, die doch wiederum die Zimmer Noborus und Fusakos zum Inhalt haben sollte. Und selbstverständlich muß sich Vera-Lotte Boecker als Fusako in dieser ersten Szene aufreizend in den Schritt greifen… — Warum?

Auch das Steuerhaus auf der »Rakuyo-Maru« wird uns nicht vorgestellt (nicht einmal als Projektion), sodaß Noborus und Ryujis Gespräch über die nautischen Instrumente sinnlos wird. In der vierten Szene, die Fusakos und Ryujis körperliche Vereinigung zum Inhalt haben sollte, sitzt Bo Skovhus am Bett und raucht »die Zigarette danach«, während Noboru neben ihm Platz nimmt. Seine Mutter liegt hinter ihm im Bett. Keine Spur davon, daß die beiden Liebenden am Ende dieser Szene ineinander verschlungen einschlafen sollten…

Im Finale, im »Trockendock« der Jungenbande, muß Ryuji den Jungen nach dem Genuß des ihn betäubenden Tees die Arme zur Fesselung hinhalten, anstatt daß, wie im Textbuch beschrieben, er ins Delirium fällt und die fünf Mörder, die Waffen in ihren erhobenen Händen, hinter ihm Aufstellung nehmen. Daß sich Fusako derweilen auf einer Bank auf offener Bühne aufhält, ohne einzugreifen, wird wohl den wenigsten Zusehern einsichtig geworden sein.

Als wäre diese Uminterpretation noch nicht genug, bebilderte die »Firma« Jossi Wieler & Sergio Morabito auch die Verwandlungsmusiken. Kein Moment durfte ungenützt bleiben, dem Publikum etwas vorzustellen. Als vermochten wir nicht selbst zu denken beim Zuhören, zu fühlen, unseren eigenen Assoziationen nach einer Szene freien Lauf lassen. — Nein, nein, das Regie-Duo entfernte alles Tröstliche, Romantische aus diesem Abend, das Treichel im Text und Henze in seiner ganz speziellen Tonsprache wichtig schienen. Und notwendig, um die »Fallhöhe«, die Tragik der Ereignisse zu vergrößern.

Doch die »Firma« Jossi Wieler & Sergio Morabito legte den Schwerpunkt auf den Verrat des Seemanns am Meer. Die gesellschaftlichen Themen wie das Auseinanderfallen von Familien (gleichgültig ob durch Gangs oder, heute viel öfter zu beobachten, die Spielsucht am Computer), die Einsamkeit vieler Erwachsener, ihr Feststecken in ungeliebten Berufen, blieben ausgespart.
Es ist Wielers und Morabitos Verratenes Meer, nicht Treichels und Henzes.

X.
Dieses Verratene Meer gibt es je nach Anzahl und Dauer der Ausgangsverbote vielleicht noch einmal in einem der Streams der Wiener Staatsoper zu sehen. Oder, nach aktuellem Stand der Planung, im September 2021 live im Haus am Ring.

  1. Sergio Morabito: »Welche Ordnung der Dinge? — Zum Repertoire der Opernbühnen des 17. und 18. Jahrhunderts«. Vortrag im Rahmen des Symposiums » ›Das Repertoire-Theater ist tot!‹ — Es lebe das Repertoire-Theater?« am 4. September 2020 an der Wiener Staatsoper sowie der nachfolgende Austausch von E-mails.

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