»Manon«, 3. Akt: Ailyn Pérez in ihrer großen Szene als Manon © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Manon«, 3. Akt: Ailyn Pérez in ihrer großen Szene als Manon

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Jules Massenet: »Manon«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Keine Frage, diese Aufführung blieb in einem bestimmten »Ungefähr«. Hätte man besser gesungen, wäre sogar das Niveau einer »Nicht-Vorstellung«1 im Bereich des möglichen gewesen. So allerdings blieb nur Massenets Musik…

II.
Keine Frage außerdem, daß Andrei Serbans Verlegung der Handlung aus der Zeit des ancien régime in die Mitte der 1950-er Jahre den Kern des Werkes mehr verhüllt denn freilegt. Die Widersinnigkeit dieses Tuns offenbart sich bereits im ersten Bild. Gipfelt im Einsatz der vorrevolutionären Pistolen im Spielsalon des vierten Aktes. Und läßt so manchen Besucher rätselnd zurück, ob in dieser Oper Inzest das Thema ist; schließlich spräche man sich ja mit »mon cousin« und »ma cousine« an.

Keine Frage also, daß es auch in den Tagen vor Dominique Meyers Amtszeit mit der Regie in Wien schlecht aussah. (Ich schrieb dies bereits.)

III.
Keine Frage auch, daß Jules Massenet mit der Manon eine Oper mit wunderbarer Musik schuf. Ein Liebesthema fand, das sich (wie in Andrew Lloyd Webbers Musicals) durch den ganzen Abend zieht. Ein Werk, das dennoch nicht mit modernen melodischen Wendungen geizt. Musikalische Phrasen bietet, die uns ob ihrer ungewohnten Harmonik heute noch aufhorchen lassen (vor allem im vierten Akt). Manon vermochte Werther den Rang abzulaufen, entschlössen sich die Direktoren endlich, es adäquat zu besetzen.

IV.
Adäquate Besetzungen: Sie bilden, auch wenn »Musiktheater«-Anhänger nicht müde werden, anderes zu behaupten, das A & O der musikalischen Kunstform Oper. Ihren Kern. Was sollte das überhaupt sein, dieses »Musiktheater«? Was hätte man sich darunter vorzustellen?

In der Oper reicht es eben nicht hin, wenn das Orchester routiniert, doch ohne große Höhepunkte, das Fundament, die beste Leistung des Abends bietet. Reicht es nicht hin, wenn Frédéric Chaslin mit detaillierten Zeichen vom Pult aus auch viele Sängereinsätze anzeigt, maestro suggeritore Lucio Golino unterstützt, den Sängern beispringt.

Ebenfalls routiniert: der Staatsopernchor. In kostümierter Ausprägung kommentierte er das Geschehen, des griechischen Dramas gleich, seitlich aus dem Orchestergraben. Doch ob Massenet solches im Sinn hatte?

»Manon«, 2. Akt: Die Verliebten, Manon (Ailyn Pérez) und der Chevalier Des Grieux (Jean-François Borras), vor dem Einbruch der Wirklichkeit durch Lescaut und Brétigny in ihr Liebesnest am Montmatre © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Manon«, 2. Akt: Die Verliebten, Manon (Ailyn Pérez) und der Chevalier Des Grieux (Jean-François Borras), vor dem Einbruch der Wirklichkeit durch Lescaut und Brétigny in ihr Liebesnest am Montmatre

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Keine Frage: Ailyn Pérez war keine befriedigende Besetzung für die Manon. Der Stimme der Rollen-Debutantin am Haus mangelte es — vor allem in der Tiefe und in der Mittellage — an Volumen. Was Wunder, ist doch auch sie ein Kind einer Generation, welche gelehrt wurde, ohne Einsatz der Bruststimme zu singen. Doch aus dem Hals zu singen fordert, überfordert die Stimme. Die Folge: viele Distonierungen, unstete Tongebung und wechselnder Stimmsitz. Legato? — Fehlanzeige. Selbst Manons große Szene im ersten Bild des dritten Aktes, »Je marche sur tous le chemins«, verspielte Pérez. (Ja, selbst im Spiel gab man es billig.)

VI.
Jean-François Borras war der Chevalier Des Grieux. Für mehr als eine solide Leistung reichte es auch bei ihm nicht. Denn »Je suis seul… Ah! fuyez, douce image« blieb, wie die ganze vokale Seite des Abends, im Ungefähren. Beiläufigen. (Wer entsinnt sich der Zeiten, als Tenöre mit dieser Arie Furore zu machen verstanden?) Nichts war’s mit guter voix mixte. Gesangstechnische Mängel zwangen Borras immer wieder zum alleinigen Einsatz der Kopfstimme (vor allem in den leiseren Passagen); eine der Kardinaluntugenden der meisten Tenöre unserer Tage. Des öfteren klang die Stimme in der Höhe eng. Und auch bei Borras vermißte ich das Singen auf Linie, die Gestaltung seiner Partie zuvörderst durch die Stimme.

VII.
Der Lescaut des Orhan Yildiz ließ vor allem zu Beginn und in den leiseren Passagen in der Mittellage eine annehmbare Baritonstimme hören. Für forte-Passagen fehlte es ihm allerdings ebenso an Volumen wie seiner »cousine«. Wie interessant könnte ein Lescaut klingen; und wie beiläufig, Rollen-Debut am Haus hin oder her, hörte sich das an diesem Abend an. Daß Lescaut bei Serban mit seiner Pistole vor Manons Gesicht herumfuchteln, sich gemeinsam mit Brétigny im zweiten Akt slapstick-artig verhalten muß: Es ist eines der Rätsel dieser Inszenierung. Brétigny sang und spielte Clemens Unterreiner. Optisch präsent, wie von ihm gewohnt, mit tragender Stimme. Allerdings ohne jenen Schmelz, ohne jenes Bemühen um legato, welches mir doch für die Oper des 19. Jahrhunderts unabdingbar erscheint.

VIII.
Jongmin Park (ebenfalls ein Rollen-Debutant) würzte seine Darstellung des Comte Des Grieux mit jenem stimmlichen Schmelz, welchen sich Opernfreunde vor allem von den Sängern der Hauptpartien erwarten. Leider ließ die Textdeutlichkeit wieder zu wünschen übrig: Ungefähres also auch hier. Thomas Ebenstein als Guillot de Morfontaine und den übrigen Ensemble-Mitgliedern sei pauschal für ihre Mitwirkung gedankt.

IX.
Keine Frage, Massenets Manon wurde in diesem Abend weit unter ihrem Wert geschlagen. Denn ohne Sänger kann man keine Oper spielen.

  1. Unter einer »Nicht-Vorstellung« versteht Conrad L. Osborne einen Abend, an dem jeder Mitwirkende eine gute Leistung erbringt, doch ohne daß sich die die einzelnen Teile zu einem mitreißenden, uns berührendend Ganzen fügen.

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