
»La bohème«, 4. Akt: Marina Rebeka (Mimì) und Benjamin Bernheim (Rodolfo)
© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Giacomo Puccini: »La bohème«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
Ähnlich verhält es sich mit dieser Vorstellung: Wer gekommen war, um eine fein ziselierte Wiedergabe von Puccinis Oper zu erleben, ließ schon bald jede Hoffnung fahren. Wandte sich enttäuscht. Wer sich einließ auf kräftige (musikalische) Pinselstriche, wird von einer guten, stringenten Aufführung zu berichten wissen.
II.
Speranza Scappucci verwechselt Lebensfreude und das Setzen durchaus kräftiger Akzente mit Hektik und Lautstärke. Immer noch. (Vor allem vor der Pause.) Diese Rücksichtslosigkeit verführt die Sänger zu fortwährender Attacke. Und fordert ihre Opfer. Auch Choreinsätze bleiben auf der Strecke, wie z.B. beim Damenchor im dritten Akt: »Hopplà!«, wörtlich genommen.
III.
Mariam Battistelli steht in dieser Serie zum ersten Mal als Musetta auf der Bühne im Haus am Ring. Und buchstabiert »Quando me’n vo’«. Brav, wie man es offenbar heutzutage lernt. Die Partie beherrscht sie, nicht umgekehrt. Auch läßt ihre Stimme in der Höhe bereits Zeichen von Überforderung hören. Das Brustregister harrt immer noch seiner Entwicklung (und vor allem Aktivierung). Die Wiener Staatsoper als Ausbildungsstätte.
Ein wenig besser schlägt sich Samuel Hasselhorn als Schaunard. Engagiertes Spiel kann jedoch über begrenzte stimmliche Mittel vor allem im ersten Akt nicht hinwegtäuschen. Ein schüchterner, zurückhaltender Musiker.
Jongmin Park übernahm kurzfristig die Partie des Colline. Was ich an diesem Abend hören durfte, stimmte mich froh. Bekräftigte den sehr guten Eindruck, welchen ich letzte Woche von Parks Leistung als Wassermann in Rusalka empfing.
Der Marcello des Clemens Unterreiner nahm es mit der von Scappucci geforderten Lautstärke locker auf. Leider ging dies des öfteren auf Kosten der Gesangslinie. Ohne zu zögern tauschte ich ein wenig weniger Lautstärke gegen besseres legato...

»La bohème«, 1. Akt: Clemens Unterreiner als Marcello
© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
IV.
Marina Rebeka gab in dieser Serie ihr Wiener Rollen-Debut als Mimì. Mit durchaus gesunder, kräftiger Stimme, wie bereits als Juliette im März 2016. Ihre Mimì ist keine zerbrechliche kleine Näherin, die sich durch ihre Partie säuselt, sondern eine junge Frau, welche sich im ersten Akt Rodolfos Avancen zu erwehren weiß. »Mi chiamano Mimì« erhält dadurch einen seltenen Reiz, eröffnet eine neue Sicht auf die Figur. Das Brustregister vertrüge durchaus mehr Aktivierung, die Höhen allerdings erklingen voll und coperto. Interessant auch, daß Rebekas Stimme ihren Kern nicht einbüßt, wenn es im vierten Akt darum geht, von Rodolfo im piano Abschied zu nehmen. Das zählt schon viel im heutigen Opernalltag.
V.
Ein Wiedersehen gab es mit Benjamin Bernheim, der bei den Salzburger Festspielen 2014 dem Eginhard im Schubertschen Fierrabras Spiel und Stimme verliehen hatte. Diesmal also Rodolfo. Des Sängers Stimme erinnerte mich phasenweise an einen Mario del Monaco oder Franco Corelli. Gewiß, die grandezza und einzigartige Stimmführung dieser beiden Großen erreicht Bernheim nicht. Außerdem fehlt es denn doch hie und an der Fähigkeit zum legato. Aber seine Stimme sitzt und fühlt sich, sorgsam an die Spitzentöne herangeführt, auch in diesen Regionen wohl. Dieser Rodolfo ist ein gestandenes Mannsbild. Den Schmerz und den Selbstbetrug über Mimìs wahren Gesundheitszustand: Man nimmt ihn Bernheim trotzdem ab.
VI.
Nehmt nur alles in allem, ist diese La bohème ein erfreulicher Lichtblick im Repertoire-Alltag.