» Guillaume Tell «, 3. Akt: Guillaume Tell (Roberto Frontali) vor dem Apfelschuß mit Jemmy (Maria Nazarova), Gesler (JeanTeitgen) und dem Ensemble der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Guillaume Tell «, 3. Akt: Guillaume Tell (Roberto Frontali) vor dem Apfelschuß mit Jemmy (Maria Nazarova), Gesler (JeanTeitgen) und dem Ensemble der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Gioachino Rossini:
» Guillaume Tell «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Ein kritischer Bericht könnte beginnen: Noch während der Ouverture wurde im Bühnenlicht hinter dem Gaze-Vorhang, darauf auf eine Zielscheibe mit schwarzen Ringen und Einschußlöchern gemalt war …

Oder: David Pountney schuf für den Abend das Bild eines miniaturisierten Helvetia bei gleichzeitiger Vergrößerung des Übervaters Melcthal und Hedwige … Oder: An der Wiener Staatsoper bietet sich derzeit die rare Gelegenheit zum Besuch des opus summum des Schwanes von Pesaro …

Oder aber: Hingehen und ansehen; — unbeschadet aller notwendigen Einwände, will man sich nicht der Schwerhörigkeit zeihen lassen.
Ich wähle letzteres.

II.
Rossinis Opern laufen, mit Ausnahme seines Barbiere und der Cenerentola, Gefahr, bis auf Aufführungen in geschützten Habitaten (Pesaro, Bad Wildbad) auszusterben. Sie teilen dieses Schicksal mit den meisten Werken des bel canto.

Wir haben das Zuhören verlernt. Eingängige Melodien, große tableaux, vielleicht sogar eingeschobene Ballett-Divertissements wurden uns zum Gräuel (auch, weil heute gefeierte » Regie-Künstler « damit nichts anzufangen wissen). Kaum eines interessiert sich noch für Stimmen; für die Kunst des Operngesangs. Eine nur wenig verwischte Koloratur hier, ein paar gestemmte und offene Spitzentöne da, eine in Teilen unsauber getanzte und orchestral gehetzte Ballettnummer mit effektvollem Schluß reichen bereits für heftige Akklamationen.

III.
Bertrand de Billy und dem Staatsopernorchester gelang eine ordentliche Umsetzung von Rossinis Partitur — nicht mehr. In der zweiten Aufführung, verstärkt mit nach der U.S.-Tournée heimgekehrten Mitgliedern, geriet das orchestrale Tun runder, doch auch beliebiger. Das Solo-Cello präsentierte sich hörbar verbessert. Allerdings beeilte sich die Horn-Gruppe, dies mit unsauberen Tönen wettzumachen. Und am Konzertmeisterpult fehlte es nach drei Orchesterproben und einer Aufführung immer noch an jener Akzentuierung, welche die Existenz dieser Position rechtfertigt. 

Maestro de Billy ließ an einigen Stellen ordentlich aufspielen: — nicht immer zum Wohle des singenden und tanzenden Personals. Denn ja, die für Wien eingerichtete und hie und da gestrichene vieraktige Fassung bietet auch die vom Komponisten vorgesehenen Ballettnummern. Renato Zanella zeichnete im Oktober 1998 für die Choreographie verantwortlich.

Man muß Zanellas Arbeit nicht mögen. Doch es gelang ihm, in den Balletteinlagen dem Geist der Regieanweisungen in der Partitur gerecht zu werden. (Daß das corps de ballet einige Male in unsauberen Linien über die Bühne hopste, wohl auch die eine oder andere Grundregel des klassischen Balletts verletzt ward, will ich dem Choreographen nicht anlasten.) Im chœur dansé des ersten Aktes drehten die Schweizermädel den habsburgischen Soldaten die lange Nase. Im pas de soldats des dritten Aktes behielten die Besetzer die Oberhand. Da gelang den Tänzern in Zanellas Choreographie zu Rossinis mitreißender Musik die Erinnerung, daß in besetzten Gebieten die Frauen immer noch mehr leiden als die Männer. Ein eigentlich starkes Bild, das dennoch nicht alle im Rund so betroffen zurückließ, als daß man von Applaus Abstand nehmen wollte.

IV.
David Pountneys Inszenierung (in Bühnenbildern und Kostümen von Richard Hudson und der Beleuchtung von Robert Bryan) erzählt die Geschichte. Dennoch verleugnet sie in einzelnen Szenen den Text: etwa, wenn im ersten Akt die Schweizer drei Hochzeitspaare feiern, die Chordamen aber durch Hand- und Körperbewegungen Streit mit ihren Männern darstellen müssen (sehr gut disponiert: Chor und Extrachor der Wiener Staatsoper, einstudiert von Martin Schebesta). Die Apfelschußszene mit der Weitergabe des Pfeils durch die Schweizer von Tells Armbrust bis zum Apfel auf Jemmys Kopf empfand schon das Premièren-Publikum als lächerlich. Ebenso mag man darüber streiten, ob auf den Rücken geschnallte Nadelbäume und in der Hand gehaltene Ruder als gelungene Tarnung betrachtet werden dürfen, um sich am Rütli gegen die Habsburger zu verschwören. Darüber hinaus stellte Pountney den Chor immer hübsch den Stimmgruppen gemäß auf: die Soprane links, die Altistinnen rechts, dahinter die Tenöre und die Bässe, ebenfalls von links nach rechts. Oder umgekehrt. Auch im Finale des zweiten Aktes mischen sich die Abordnungen von Uri, Schwyz und Unterwalden nicht, wie denn doch bei einem Wiedersehen anzunehmen wäre. (Wie fortschrittlich präsentierten sich dagegen die Bewohner Sevillas in Franco Zefirellis Regie der Carmen 1978.)

Richard Hudson hatte für den Regisseur zwei große, fahrbare Figuren geschaffen, welche, Melcthal und Hedwige nachempfunden, als Übervater und -mutter Helvetiens verstanden werden können. Die Sänger dieser Partien saßen auf Hüfthöhe der Figuren, während dienstbare Geister in grünen Overalls die Arme der Figuren an langen Stangen synchron zu den Bewegungen der Sänger führten. (Oder umgekehrt.) Versatzstücke wurden sichtbar für alle auf die Bühne geschoben oder auf dieser bewegt. Niemand lief Gefahr, Theater könne einen Zauber entfalten, dem man als Zuschauer zu erliegen vermöchte.

V.
Evgeny Solodovnikov war ein gesanglich schwacher Melcthal, mit resonanzloser Stimme. Ohne gesangliche Eindringlichkeit. Auch nicht, als er seinen Bruder Arnold ermahnte, sich ebenfalls zu vermählen. Da fiel der christlich-orthodoxe Ritus seines Brautsegens kaum mehr ins Gewicht … Auch Monika Bohinec mühte sich mit der Altpartie der Hedwige. Wie — mit wenigen Ausnahmen — den meisten ihrer Art fehlte es am ungehinderten Zugriff auf die untere Stimmfamilie und den Bereich über dem passaggio. Die Folge: nachgedrückte, tiefe Töne ohne Resonanz, Mühe mit der Höhe. Beide Partien — ebenso wie Ruodi (Iván Ayón Rivas), Leuthold (Nikita Ivasechko), Walter Furst (Stephano Park) — werden in der Regel mit comprimarii besetzt. Glücklicherweise entscheiden sie nicht über Erfolg oder Mißerfolg eines Abends.

VI.
Ich halte Guillaume Tell für ein unterschätztes Werk. Die Länge: Ausrede für Striche, die wir in Wagners Meistersingern niemals hinnehmen würden. Den Einwand, Die Meistersinger von Nürnberg seien der Komposition von Guillaume Tell überlegen, halte ich für jene erst zu beweisende Behauptung, die sie ist: Rossinis grand opéra wird zu selten aufgeführt, und auch dann kaum einmal strichlos. Sie ist zu unbekannt (vielleicht auch gesanglich zu fordernd), als daß mir solches Urteil ohne oftmaliges Hören, ohne genaues Studium gerechtfertigt scheint. Im Gegenteil: Allein der erste Akt des Guillaume Tell ist so reich an musikalischen Einfällen, harmonischen Wendungen und gesanglichen Schwierigkeiten, daß eines für die Schönheiten der anderen Akte gar nicht mehr empfänglich sein kann. Man spiele Guillaume Tell über ein Jahrzehnt jede Spielzeit in guter Besetzung, man lerne das Werk kennen und verschiebe sein Urteil. Ich bin gewiß, es fiele anders aus.

Wie oft erklären uns, dem Publikum, vermeintlich Allwissende, daß Opern früher nach einigen Saisonen vom Spielplan verschwanden, einzig die Libretti in immer neuen Vertonungen auf die Bühnen kamen, solcherart die heutige Vorherrschaft der Librettisten und Spielleiter (vulgo: Regisseure) begründend? Der Fall Guillaume Tell bezeugt das Gegenteil.

Rossini erstellte für Paris auch eine dreiaktige Fassung (1831), eine weitere für Bordeaux (1837), eine italienische für Bologna (1840) sowie weitere für Paris. (Für die des öfteren aufgestellte Behauptung, die italienische Fassung liege höher, findet sich übrigens kein Hinweis im Kommentar zur historisch-kritischen Ausgabe der Fondazione Rossini di Pesaro.) Der Tenor Gilbert Louis Duprez entfesselte jedenfalls ab 1837 an der Pariser Opéra Begeisterungsstürme mit seinen mit dem Brustton gesungenen hohen › c ‹.
(Im Verlaufe der Begebenheiten wird das alles klar werden.)

So feierte Paris am 10. Februar 1868 die 500. Aufführung. (441 davon waren allerdings Abende mit der drei- oder vieraktigen Fassung gewesen, der Rest die Aufführungen einzelner Akte gemeinsam mit einem Ballett.) Es hatte also — trotz Auber, Berlioz, Meyerbeer, Verdi, Wagner und anderen — pro Jahr im Durchschnitt zehn Aufführungen gegeben. Wie oft spielt man Guillaume Tell heute?

» Guillaume Tell «, 2. Akt: Lisette Oropesa (Mathilde) und John Osborn (Arnold) bei ihren Rollen-Debuts an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Guillaume Tell «, 2. Akt: Lisette Oropesa (Mathilde) und John Osborn (Arnold) bei ihren Rollen-Debuts an der Wiener Staatsoper

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Die Wiederaufnahme von Guillaume Tell bescherte dem Wiener Publikum eine Erstbegegnung mit Jean Teitgen als Gesler. Teitgen gestaltete den Gouverneur von Schwyz und Uri auch vokal als Bösewicht: mit markigem Ton, gut verständlich, doch weitgehend sich der Kunst des legato begebend. Carlos Osuna war ein bemühter Rodolphe, doch von jener vokalen Qualität, welche einen das Scheitern der habsburgischen Besetzung schon ahnen läßt. Gesler und Rodolphe werden im heutigen Opernbetrieb halt doch nur als größere comprimario-Partien angesehen …

Der Jemmy der Maria Nazarova bildete, zumal am ersten Abend, einen immer nach Dur strebenden Lichtblick. Nachdem Rossini noch vor der Uraufführung eine 12-minütige Szene des Jemmy gestrichen hatte, bleiben dieser Figur » nur « viele Einwürfe in Ensembles und die eine oder andere Phrase mit Tell bzw. Mathilde. Dennoch ist diese Partie für das vokale Gleichgewicht in den Ensembles von nicht zu unterschätzender Bedeutung — und Maria Nazarova, gut bei Stimme, wahrscheinlich die beste Besetzung, die man sich heute wünschen kann.

VIII.
Die Partie des Guillaume Tell teilt dasselbe Schicksal wie Mozarts Don Giovanni: Beiden ist nur eine Solonummer vergönnt. Nicht leicht erschließt sich die eine, sehr kurz, wenngleich effektvoll, klingt die andere. Doch beide haben in Duetten und Trios zu tun, führen tableaux und fungieren als die Zentralgestirne, darum alle anderen Figuren kreisen.

Man ist hier, um die Wahrheit zu sprechen. Nun denn: Roberto Frontali wurde dem Guillaume Tell stimmlich nicht gerecht. Dies der erste Eindruck. Der zweite, fünf Tage später, bestätigte den ersten. Frontali gab einen markigen Tell, doch bar jeder gesanglichen Linie. Lautstärke entschädigt nicht für fehlende Eleganz, nasale Tongebung nicht für korrekt gesungenes Französisch. Die tessitura von Sois immobile, et vers la terre liegt relativ hoch, schwingt sich mehrfach bis zum hohen Bariton-› f ‹ auf. Die Arie fordert vom Sänger mit ihren eher langen Notenwerten eine überlegte Phrasierung. Bricht die Gesangslinie, macht sich rasch Langeweile breit.

IX.
Die Amerikanerin Lisette Oropesa gab mit dieser Serie ihr internationales Rollen-Debut als Mathilde. Und sang sich (vor allem am ersten Abend) in die Riege der wichtigsten Rolleninterpretinnen unserer Tage. Das ändert freilich nichts am Umstand, daß die tiefe tessitura dieser Partie noch größere Präsenz der unteren Stimmfamilie verlangt; — vor allem im Bereich über dem passaggio. Doch Oropesas Stimme schwächelt vor allem in ebendieser Lage. In absteigenden Phrasen verlor ihre Gesangslinie immer wieder hörbar an Volumen bzw. vermochte dieses in den dramatischeren Momenten der Partie (z.B. in den großen Szenen mit Arnold und im finalen Ensemble des dritten Aktes) nicht wie gefordert zu aktivieren. Jenseits des mezzoforte klang Oropesas Stimme in der oberen Mittellage » luftig «. Daß ihr die Spitzentöne wunschgemäß gelangen, entschädigte nicht für immer wieder zu hörende Probleme in der Linienführung; — Akklamation des Publikums hin oder her. (Ich sagte dies bereits.)

Sombre fôret, Mathildes Auftritts-Arie, fordert mit ihren zwei aufeinanderfolgenden 16-taktigen Phrasen vom Sopran einen langen Atem und ausgezeichnetes legato. Außerdem klettert die Gesangslinie knapp vor dem Ende dieses Abschnittes in einem Oktavsprung bis zum hohen Sopran-› as ‹. Erst in der Coda wird in einer a piacere-Sequenz das hohe Sopran-› c ‹ erreicht. Beide Male ließ der Aufstieg zum hohen › as ‹ die damit verbundene Mühe erkennen, schien Oropesa den Stimmdruck erhöhen zu müssen.

Lisette Oropesa sang sich mit ihrer Leistung in die Riege der wichtigsten Rolleninterpretinnen der Mathilde unserer Tage: Das verrät mehr über den Zustand der klassischen Gesangskunst, als jedem Opernfreund lieb sein kann.

X.
John Osborn übernahm, kurzfristig herbeigeeilt, die Partie des Arnold; — fast sechs Jahre nach Torsten Fischers und Diego Matheuz’ mißglücktem und Guillaume Tell arg amputiert habenden Versuch im Theater an der Wien.

Der Arnold gilt vielen nicht nur seiner hohen tessitura wegen als unsingbar. Der Grund: Rossini schrieb für seine Zeit. Für eine Zeit, in der Tenöre nur bis zum › g ‹ mit der Bruststimme sangen und für höhere Töne und Phrasen zu einem durchaus mit reichem Klang ausgestatteten und auch in der Lautstärke variablen, variantenreichen Kopfton wechselten. (Eine Technik, die Rossini selbst beherrscht haben soll.) Diese Art zu singen erlaubte sogar den Aufstieg der Stimme bis zum › f ‹ über dem hohen Tenor-› c ‹, wie es Vincenzo Bellini in I puritani komponierte. (Und das uns heute als unsingbar erscheint.)

Die Geschichte ist bekannt: Gilbert Louis Duprez suchte für die italienische Erstaufführung des Guillaume Tell in Lucca (1831) nach einer Möglichkeit, mit seiner offenbar zu kleinen Stimme der Partie des Arnold beizukommen. Da es anatomisch unmöglich und viel zu kraftfordernd wäre, die reine Bruststimme (noch dazu in Allegro-Passagen) eine Quinte über das passaggio in die Höhe zu treiben, suchte Duprez nach einer Möglichkeit, mit dem eben notwendigen Anteil des Kopfregisters das hohe › c ‹ zu singen, ohne daß die männliche Färbung seiner Stimme verloren ging. Der moderne Tenor ward geboren — um den Preis eingeschränkter stilistischer Mittel.

Asile héréditaire, Arnolds Arie im vierten Akt, gerät so zum Lackmus-Test. In der Regel gelingt es heutigen Tenören, das › f ‹ am passaggio durch entsprechende Disposition der unteren Stimmfamilie zu stabilisieren. Das Problem sind die offenen, auf dem Ton › fis ‹ notierten, offenen Vokale wie z.B. in der Phrase J’apelle, il n’entend plus ma voix ! und das › ⁥a ⁥‹ bei je viens vous voir. Auch sonst geizt die Partie des Arnold nicht mit hohen › b ‹, › h ‹ und › c ‹. Und das in Verbindung mit der hohen tessitura.

Osborn sang einen sehr guten Arnold. Er kam mit der Partie gut zurecht, auch wenn seine Stimme das eine oder andere Mal oberhalb des passaggio eng wurde, mancher Spitzenton sehr offen angesetzt war. Im Duett mit Tell im ersten Akt übernahm Osborns Arnold die Führung. Ebenso im großen Duett mit Mathilde zu Beginn des zweiten Aktes, wo Rossini — ein genialer Kunstgriff — die Tenorstimme eine Sext unterhalb des Soprans führt. Diese steigt bis zum hohen › a ‹ bzw. › c ‹ auf. So — nicht zuletzt dank der klanglichen Disposition von Osborns Stimme — entsteht beim Hörer der Eindruck, Arnold singe höher als Mathilde. Auch in Asile héréditaire gelang Osborn die Einbindung der › c ‹ überaus gut, vor allem am zweiten Abend. Da mußte dieser Arnold keinen Vergleich mit vielen der bereits ins Dunkel der Geschichte Hinabgesunkenen scheuen.

XI.
Allen Einwänden zum Trotz: hingehen und ansehen. Ein Meisterwerk harrt immer noch seiner Entdeckung.

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