Edwaard Liang: »Murmuration« © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Edwaard Liang: »Murmuration«

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Gedanken zur Ernennung des neuen Direktors des Wiener Staatsballetts (II)

Wiener Staatsballett

Von Ulrike Klein

Meine Überlegungen zur Ernennung von Martin Schläpfer zum Direktor des Wiener Staatsballetts ab der Saison 2020/21 führten zu zahlreichen Anfragen und Kommentaren aus der Leserschaft. Nachstehend einige Ergänzungen.

Eben erst beschloß das Wiener Staatsballett die Saison 2017/18 mit der bereits traditionellen Nurejew Gala. Zusammen mit internationalen Gästen bot man einen großartigen Überblick über das breit gefächerte Repertoire der Compagnie. 

Wie man hörte, stellte sich Martin Schläpfer in den letzten Tagen der Compagnie vor. Man kann nur hoffen, daß er auch die Zeit fand, die Gala zu besuchen, um sich selbst ein Bild zu machen über das hohe Niveau und die Diversität seiner zukünftigen Tänzer.

»Das Wiener Staatsballett wird auch unter meiner Direktion das grandiose klassische Repertoire pflegen und aufführen, aber auch klare Zeichen in Richtung des Zeitgenössischen unserer Kunstform setzen«, so Schläpfer in der Presseaussendung anläßlich seiner Bestellung.

Das Vorhaben ist selbstredend lobenswert, doch harren in der Umsetzung gewisse Schwierigkeiten. Denn selbstverständlich hat die Compagnie bereits jetzt zahlreiche Klassiker im Repertoire. Wer soll diese Werke in Zukunft einstudieren? Martin Schläpfer? Wann hat er zuletzt ein klassisches Ballett in klassischer Tanzsprache auf die Bühne gebracht?

In einem Interview, welches Schläpfer aktuell der Rheinischen Post gab, kann man lesen, daß der designierte Ballettdirektor in bezug auf seine Werke (in Düsseldorf/Duisburg) Bedenken hat: »Es geht um meine Stücke. Schon, wenn ich nicht mehr so viel probe, verändert sich das Werk sofort. Das heißt, jemand der meine Arbeiten sehr gut kennt, muss sie einstudieren.« 

Das bedeutet im Umkehrschluß, daß Martin Schläpfer sämtliche Partien eines großen, klassischen Handlungsballetts bis ins letzte Detail kennen muß, um dieses einzustudieren bzw. zu proben. Denn sonst veränderten sich ja die Werke. Und wir wollen doch den Schwanensee von Rudolf Nurejew sehen; — und nicht jenen von Martin Schläpfer…

Manuel Legris versteht es, diese Werke im Sinne Nurejews aufzuführen. Er wurde in dieser Tradition groß. Und die großen klassischen Ballette sind nun einmal eng den Traditionen verhaftet.

»Ich sehe da eher eine Parallele zwischen Schläpfer und Zanella. Auch unter Zanella hatten wir ja nicht nur moderne Stücke wie Empty Place und Sacre, sondern auch Klassiker wie Schwanensee und La BayadèreAlso, wenn uns Schwanensee und Don Quixote von Nurejew, Romeo und Julia sowie Onegin von Cranko, Fille mal gardée und dergleichen erhalten bleiben, dann können doch die meisten Legris-Tänzer in Wien bleiben. Und wenn in den modernen Dreiteilern weniger de Bana und mehr Schläpfer kommt, kann ich das verschmerzen.«

Die einzige Parallele zwischen Schläpfer und Renato Zanella ist, daß beide in jungen Jahren bei Hans Spoerli in Basel tanzten. Zanella wurde ab 1985 Mitglied des Stuttgarter Balletts. Dort wurde er mit den großen Werken der Ballettliteratur vertraut und tanzte die Handlungsballette John Crankos. Auch choreographisch machte sich Zanella in Stuttgart einen Namen. 1993 ernannte ihn Marcia Haydée zum Ständigen Choreographen des Stuttgarter Balletts.

Die Annahme, daß die meisten Tänzer des Wiener Staatsballetts bei diesen Aussichten auch weiterhin in Wien tanzen wollen, kann ich nicht teilen. Es wird zu großen Veränderungen in der Compagnie kommen. Die hätte es vielleicht auch bei einem Verbleib von Manuel Legris in Wien gegeben, da naturgemäß ein Tänzer seine Karriere eher beenden muß als andere Künstler.

Der Personalwechsel an der Spitze wird nun aber den Entschluß des einen oder anderen beschleunigen, seine Karriere zu beenden. Manche Tanzer werden unter Martin Schläpfer keine neuen Verträge mehr erhalten. Darüberhinaus ist davon auszugehen, daß einige Tänzer versuchen werden, mit Manuel Legris mitzugehen, sobald dessen weitere Pläne bekannt werden. Andere werden in andere Compagnien wechseln (wollen).

Wer wird bleiben? Jene, welche sich auf das »Abenteuer Schläpfer« einlassen wollen. Jene, welche ihren Lebensmittelpunkt nicht von Wien wegverlegen wollen. Und jene — man soll Wahrheiten aussprechen —, welche keine Chancen sehen, bei anderen Compagnien unterzukommen.

Wer wird sich in Hinkunft in Wien bei auditions bewerben? Der Name »Legris« gilt etwas in der Ballettwelt. Da weiß ein Tänzer, daß ihm bei harter Arbeit viele Möglichkeiten offenstehen. Angesichts Schläpfers vita erscheint es zweifelhaft, daß er die Compagnie im Sinne des klassischen Balletts weiterentwickeln wird…

Daß Martin Schläpfer in mehrteilige Abende auch seine Werke einbinden wird, davon darf man ausgehen. Und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Nur sollte die Programmgestaltung entsprechend ausgewogen sein.

»Außerdem habe ich gefunden, daß Schläpfer in Düsseldorf durchaus auch Balanchine, Van Manen und Robbins gespielt hat. Also könnten uns auch diese Choreographen erhalten bleiben.«

Diese müssen uns auch erhalten bleiben. Es ist wichtig, daß eine Compagnie vielfältig arbeitet und in zahlreichen Stilen zu Hause ist. Allerdings bedarf es für adäquate Aufführungen dieser Werke auch entsprechender Proben, damit die verschiedenen Stile unterschieden werden können.

Darf man in Kenntnis der Gepflogenheiten in der Ballett-Welt berechtigte Zweifel anmelden, daß ein Pierre Lacotte, ein John Neumeier unter einem Ballettdirektor Schläpfer ihre Arbeiten in Wien selbst einstudieren werden? Und: Bedarf eine Compagnie nicht in erster Linie eines Leiters? Und erster in zweiter Linie eines Choreographen?

47 ms