Offener Brief für die Wiederöffnung des Stehplatzes der Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

»Leute, die zum ersten Mal in der Oper sind, reagieren oft sehr überraschend. Entweder mögen sie die Oper, oder sie hassen sie. — Wenn sie die Oper mögen, ist es für immer. Die anderen tun mir leid.«
— Richard Gere als Edward Lewis in »Pretty Woman«

Herrn Dr. Alexander van der Bellen
Bundespräsident der Republik Österreich

Herrn Sebastian Kurz
Bundeskanzler der Republik Österreich

Herrn Mag. Werner Kogler
Vizekanzler der Republik Österreich

Frau Mag. Andrea Mayer
Staatssekretärin für Kunst und Kultur

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Vizekanzler,
sehr geehrte Frau Staatssekretär für Kunst und Kultur!

Mit Unbehagen müssen Musik- und Theater­freunde wie -schaffende in diesen Tagen zur Kenntnis nehmen, daß der österreichischen Bundesregierung wenig am zügigen »Hochfahren« und der diesen Namen verdienenden Durchführung von Konzerten, Opern- und Theater­vorstellungen liegt. Denn anders können die zuletzt verkündeten »Lockerungen« kaum interpretiert werden.

Die Ankündigung, wonach ab 1. Sep­tember 2020 bis zu 5.000 Personen zu Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zugelassen sind, wird durch die Anforderung eines (seitlichen) Mindestabstandes von einem Meter in ebendiesen Veranstaltungsräumen ad absurdum geführt. So wird es beispielsweise der Wiener Staatsoper laut Aussage ihres Direktors, Herrn Dr. Bogdan Roščić, nicht möglich sein, mehr als rund 1.250 der 1.709 Sitzplätze pro Vorstellung zu verkaufen.

Die von der Bundesregierung erlassene Anordnung, welche z.B. der Wiener Staatsoper den Verkauf von Stehplätzen untersagt, obwohl auch dort die Einhaltung der Abstandsregel möglich ist, kann in diesem Zusammenhang nur als eine willkürliche verstanden werden. Sie entbehrt jeder rationalen Grundlage und ist nicht nachvollziehbar.

Mit dieser Regelung schließen Sie wissentlich weniger begüterte Mitbürger vom reichhaltigen Kulturleben dieser, aber auch anderer österreichischer Institutionen aus. Dies wiegt umso schwerer, als auch diese Gruppe mit ihren Steuern und Abgaben direkt (oder indirekt über Subventionen) ihren Beitrag zum Fortbestand der kulturellen »Leuchttürme« Österreichs leistet.

Die Stehplätze im Steh-Parterre, am Balkon und der Galerie (einstens 3. und 4. Galerie) gibt es seit der Eröffnung der Wiener Staatsoper am 25. Mai 1869. Diese kultur- und gesellschafts­politische Großtat, allen an der klassischen Musik und der Kunstform Oper Interessierten den ungehinderten Zugang zu allen Vorstellungen zu ermöglichen, stand über 150 Jahre lang für Ihre Amtsvorgänger niemals ernsthaft in Frage; — nicht einmal in den schwersten Zeiten der Weltkriege oder der »Spanischen Grippe« 1918/19. Umso betrüblicher muß die aktuelle Situation empfunden werden.

Wie könnte eine Umsetzung des Verkaufes von Stehplätzen für die Vorstellungen an der Wiener Staatsoper ab 7. Sep­tember 2020 aussehen?

  1. Der Kauf einer Stehplatzkarte pro Person kann nur online und unter Vorweis der kostenlos erwerbbaren BundestheaterCard erfolgen.
  2. Die Zahl der in den Verkauf gelangenden Stehplätze wird auf die Anzahl der Untertitelmomitore in den Stehplatzbereichen beschränkt. (Diese Monitore sind in größerem Abstand voneinander angebracht und können als Ersatz für die/Einhaltung der Einmeterregel dienen.) 
  3. Auf Grund der Personalisierung der Karten wird der im Falle des Falles zu verständigende Personenkreis auf den jeweiligen Stehplatzbereich (Steh-Parterre, Balkon links bzw. rechts und Galerie) begrenzt.

Eine ähnliche, mit geringem Aufwand zu erzielende Lösung ist auch für den Goldenen Saal des Wiener Musikvereins möglich: Dort könnten die von den Besuchern einzunehmenden Stehplätze mit Aufklebern am Boden markiert werden.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung, ich ersuche Sie im Wissen um unzählige, diese Kunstformen liebende Mitbürger, die derzeit geltende Untersagung des Verkaufes von Stehplätzen mit den zuständigen Verantwortlichen (Herrn. Mag. Kircher von der Bundestheater-Holding, Staatsoperndirektor Dr. Bogdan Roščić) in den kommenden Wochen noch einmal zu evaluieren.

Ziel muß es sein, sowohl bei den Steh- als auch bei den Sitzplätzen so rasch wie möglich wieder die maximal mögliche Zahl in den Verkauf zu bringen. Dies nicht zuletzt, um die zur Abgeltung des Defizites zusätzlich notwendigen und mittels Patronats­erklärung des Bundes zugesagten Budget-Mittel auf ein Minimum zu reduzieren. (Und, glauben Sie mir, das Stehplatz­publikum der Wiener Staatsoper ist so flexibel, daß ein Vorverkaufsbeginn z.B. Mitte August für die September-Vorstellungen keine ernsthafte Hürde darstellen wird.)

Sänger, aber auch Dirigenten betonten in der Vergangenheit immer wieder, daß die Zustimmung des Wiener Stehplatz­publikums, dessen Fachkenntnis über die Jahrzehnte oft und oft angemerkt wurde, für diese Künstler den »Ritterschlag«, den eigentlichen Grad­messer ihrer Leistungen darstellt. Der Wiener Stehplatz ist eine Institution. Eine Errungenschaft, um die Österreich viele Länder auf der Welt beneiden.

Diese Institution gerade in schwierigen Zeiten zu verteidigen und unter allen Umständen zu erhalten, muß das Ziel jedes verantwortungsbewußten Repräsentanten dieser Republik sein; — auch und gerade dann, wenn sein persönliches Kulturinteresse vorwiegend anderen Sparten gilt.

Es gibt drängendere Sorgen — ich weiß. Aber ebenso weiß ich, daß die Öffnung der Stehplätze, wo immer in unseren Theatern, Konzert- und Opernhäusern möglich, ein Symbol sein wird. Ein notwendiges und vielbachtetes Symbol des Aufbruchs.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, bitte lassen Sie auch in dieser Angelegenheit Ihrem erfrischenden Pragmatismus freien Lauf und wirken Sie in obigem Sinne auf die verant­wortlichen Entscheidungsträger ein.

Vielen Dank im voraus.

Mit freundlichen Grüßen im Namen unzähliger Opern- und Klassikfreunde,
Thomas Prochazka

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