» Die Kameliendame «, 3. Akt: Armand (Timoor Afshar) liest in den Aufzeichnungen Marguerites (Ketevan Papava) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

» Die Kameliendame «, 3. Akt: Armand (Timoor Afshar) liest in den Aufzeichnungen Marguerites (Ketevan Papava)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

John Neumeier:
» Die Kameliendame «

Wiener Staatsballett

Von Thomas Prochazka

Bewegende Momente. Starke Bilder.
Eindrücke eines ressortmäßig Unzuständigen.

II.
Man soll sich nicht zum Narren machen: Es gibt Berufenere für das Urteil betreffend die technische Seite des Abends. Sie erkennen spannungslose Arme am Bewegungsablauf, falsche Beinstellungen an den unter den langen Röcken hervorlugenden Füßen, um ihre Achse » eiernde « Ballerinas und nicht einwandfrei gelungene Hebefiguren. Sie entdecken Ungenauigkeiten in den Massenszenen und wissen korrekt getanzte Arabesken zu würdigen. Für sie ist port de bras kein südfranzösischer Hafen, und unter dem Ausdruck en pointe verstehen sie keine Stickereitechnik.
Uns anderen bleiben unsere Empfindungen.

III.
Die Kameliendame ist John Neumeiers eingelöstes Versprechen eines abendfüllenden Balletts für die Stuttgarter Kompanie, gegeben Marcia Haydée anläßlich des Begräbnisses von John Cranko (1973). Eingelöst: 1978. Marcia Haydée war die erste Marguerite. Die Fotos von damals lassen erahnen, warum Ketevan Papava John Neumeiers erste Wiener Wahl war. Ihre Leistung gereichte ihm, dem Schöpfer, und ihrer großen Vorgängerin zur Ehre.

IV.
Auf der von Jürgen Rose gestalteten Bühne werden nach der Versteigerung das Mobiliar, die Teppiche, Bücher, die Roben fortgebracht. Eno Peci als Monsieur Duval betrachtet ein Portrait Marguerites. Währenddessen wird die Rückwand durchsichtig, und eine Sommererinnerung an die Verstorbene wandelt im Hintergrund. Flüchtig nur, doch wunderbar einfühlsam ein- und wieder ausgeblendet. (Das, meine Lieben, heißt man Bühnenbildgestaltung und Licht-Regie.)

Im Orchester erklingt das Largo aus Frédéric Chopins Sonate in h-moll, op. 58. Es ist das immer wiederkehrende musikalische Thema der Vertrautheit. Der Zärtlichkeit. Einer liebevollen Vergangenheit. Michał Białk spielt es. Er avanciert zum musikalischen Zentralgestirn des Abends. Nicht nur große Teile des dritten, auch der gesamte zweite Akt werden » nur « mit Chopin’scher Klaviermusik bestritten. Genial.

Markus Lehtinen koordiniert die Orchesterstellen des Abends. Der musikalische Hauptakteur allerdings heißt Michał Białk.

V.
Meine Gedanken schweifen …

Paris, Montmartre. Wo der Marterberg gegen die Place de Clichy abfällt, liegt der Cimetière de Montmartre. Hector Berlioz und Jacques Offenbach sind dort begraben. Vaslaw Nijinski, Thema unzähliger Choreographien des aus Milwaukee gebürtigen. Alphonsine [Rose] Plessis (Marie Duplessis), la dame aux camélias. Geboren 1824, gestorben im Feber 1847. Keine 200 Meter Luftlinie entfernt stößt der Besucher auf das Grab von Alexandre Dumas fils. Er war sechs Monate jünger als Alphonsine (Marie) und von September 1844 bis August 1845 ihr Liebhaber. Seine Novelle La Dame aux camélias erschien 1848. Aus Marie wurde Marguerite Gautier, aus Alexandre Dumas Armand Duval. Ob verklärend oder nicht: autobiographischer geht es kaum. Ob es das ist, was uns heute noch fesselt, gleichgültig ob von Dumas, Verdi oder John Neumeier?

Am Cimetière du Père-Lachaise, im östlichen Teil der Stadt, liegt Frédéric Chopin begraben. Von ihm stammt die Musik zu John Neumeiers Ballett. So kurz sind die Entfernungen auf Zeitreisen …

» Die Kameliendame «, 3. Akt: Hyo-Jung Kang (Manon Lescaut) und Marcos Menha (Des Grieux) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

» Die Kameliendame «, 3. Akt: Hyo-Jung Kang (Manon Lescaut) und Marcos Menha (Des Grieux)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

VI.
Die Massenszenen im Prolog und im ersten Akt: Schattenhaft tauchen Erinnerungen an Kenneth MacMillans Manon und Crankos Onegin auf. Sinken wieder hinab ins Dunkel … Wir befinden uns im Théâtre des Variétés bei einer Aufführung von Manon Lescaut: Theater auf dem Theater auf dem Theater. Hyo-Jung Kang tanzt die Manon Lescaut, Marcos Menha den Des Grieux. Gaspare Li Mandri, Tomoaki Nakanome und Arne Vandervelde geben die Verehrer zum Maestoso aus dem Klavierkonzert Nr. 2 in f-moll, op. 28. Das Bühnenlicht auf der Bühne wechselt auf fliederfarben, paßt sich Manons Kostüm an.

Im dritten Akt, wieder im Theater: Die bereits schwerkranke Marguerite sieht noch einmal Manon Lescaut. Hyo-Jung Kang und Marcos Menha tanzen Manons Sterben in abgerissen wirkenden Kostümen. Wieder ändert sich die Beleuchtung, fast unmerklich. Und wieder schiebt sich eine Erinnerung an den Schluß-pas de deux aus Manon vor das geistige Auge. 1974, vier Jahre vor Die Kameliendame, hatte Kenneth MacMillan sein Ballett geschaffen, mit ähnlichen Figuren.

VII.
Danach, in Marguerites Wohnung: Armand kommt auf Einladung von Gaston Rieux (Masayu Kimoto) und Prudence Duvernoy (Ioanna Avraam). Graf N., einer der vielen Verehrer Marguerites, versucht zuerst vergeblich, mit ihr ins Gespräch zu kommen, dann wirbelt er sie steif und ungelenk durch einen Walzer. Géraud Wielick tanzt den Graf N., mit einem bewundernswerten Ausmaß an Selbstironie, bauend auf jenes technisches Fundament, welches dafür unabdingbar scheint. Später wird er sich mit der mir einen sehr guten Eindruck hinterlassenden Olympia der Elena Bottaro trösten. Marguerite lädt Armand zu sich auf das Sofa, während Prudence und Gaston mit ihrem pas de deux jenen von Hyo-Jung Kang und Marcos Menha binnen Sekunden vergessen machen. Ein Nachklang der Ära Legris.

Un dì, felice, eterea — doch nicht von Verdi. Der erste große pas de deux von Marguerite und Armand. Erinnerungen an jenen im ersten Akt des Onegin dämmern herauf, in seinem Aufbau, den Schritten und der Art zu tanzen — mit umgekehrten Vorzeichen allerdings. Eine (unbewußte) hommage an den älteren Zauberer, John Cranko? Der Armand des Timoor Afshar wirbt mit allen Sinnen zum Larghetto aus dem Klavierkonzert Nr. 2. Wie kann man Gefühle so intensiv zu Musik darstellen? Das bleibt wohl das Geheimnis von Papava, Afshar, Neumeier und jenen, die den Abend im Namen des Neumeier Ballett Hamburg einstudierten: Kevin Haigen, Janusz Mazon und Ivan Urban. Am Ende des pas de deux wechselt die rote Kamelie ihren Besitzer.

VIII.
Landpartie: Igor Zapravdin spielt zwei Walzer aus den Trois Valses Brillantes, op. 34, und die Trois Ecossaises, op. 72. Franz Schubert und seine Freunde lassen grüßen. Masayu Kimoto und Ioanna Avraam zeigen erneut ihre Kunst, ihre Kollegen — es sind zu viele, sie alle zu nennen — assistieren mit sichtlicher Freude. Ein Gustostück auch der kleine pas de trois mit Nanina, Marguerites Kammerfrau (Adi Hanan).

Läßt sich die Unbeschwertheit dieser Sommertage besser ausdrücken als in solchen Szenen? Denn langsam, aber stetig, scheint auch die Choreographie ihre Sprache zu wechseln: weniger Cranko, mehr Neumeier: Die strengen Linien weichen sich auf, die taktversetzten Bewegungen werden mehr. Nachdem der Herzog (Rashaen Arts) unverrichteter Dinge weichen muß, finden die Liebenden in jener bedingungslosen Liebe zusammen, die der Jugend vorbehalten ist. Ketevan Papava und Timoor Afshar wechseln zwischen Herumtollen und Zärtlichkeiten. Zuvor: Marguerite und Armand sehen dem Treiben zu. Sie an einen geflochtenen Fauteuil gelehnt, er mit seinem Kopf in ihrem Schoß. So sieht Glück aus. (Keine Kamelie.)

» Die Kameliendame «, 2. Akt: Marguerite (Ketevan Papava) und Monsieur Duval (Eno Peci) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

» Die Kameliendame «, 2. Akt: Marguerite (Ketevan Papava) und Monsieur Duval (Eno Peci)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

IX.
Sopranistinnen beschreiben den zweiten Akt von La traviata als den Prüfstein des Abends: Zentrum und Angelpunkt des Ganzen in der Hinwendung zur sich entfaltenden Tragödie. Vom Publikum wenig gewürdigt, gilt das Duett mit Giorgio Germont mit seiner Stimmlage am und knapp oberhalb des passaggio vielen als die Hauptschwierigkeit. (Selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß man als lyrischer Sopran über die notwendige Agilität für die funkelnden Perlen des Sempre libera verfügt. Und über die Linie für Addio del passato bei sogni ridenti. Beides heutzutage nicht mehr selbstverständlich.)

Ähnliches gilt wohl auch in der Kameliendame für Monsieur Duvals Besuch bei Marguerite: Eno Peci tanzt ihn — nein, ist Monsieur Duval. Seine Ankunft, die Nichtbeachtung von Marguerites zum Kuß gereichter Hand: in seiner Lakonie und Strenge ein unwahrscheinlicher Affront. Im Gegenzug Marguerites Umlenken ihrer Bewegung in eine Geste, er möge Platz nehmen: starke Momente. So kenntnisreich gestaltet, so detailreich choreographiert, von Papava und Peci mit dem Schatz ihrer Erfahrung so selbstverständlich ausgeführt, daß eines staunend und bewegt zurückbleibt. Wenn Tanz Theater durch Bewegung und Oper Theater mit und durch die Stimme sind: Dann müssen wir letztere seit Jahrzehnten schon in solcher Qualität entbehren.

Was folgt, ist genuiner Neumeier (wie z.B. in Le Pavillon d’Armide): Rasche, abgezirkelte Bewegungen Pecis, das Marguerites Ängste ausdrückende » Bourrieren « von Ketevan Papava, ihre Reaktion auf seine Forderung. Schließlich die Erscheinung Manons und ihrer Liebhaber, Gleichnis für eine Rückkehr ins » alte « Leben. Marguerites Zusammenbruch und schließlich Verzicht. Nicht nur die Tanzsprache ändert sich, auch die Lichtstimmung paßt sich an Manons Anwesenheit an: Violett mischt sich ins immer dunkler werdende Blau des Hintergrundes. Als Monsieur Duval aufbricht, küßt er Marguerites Hand. Kann man solches erfahren, ohne bewegt zu werden? In Momenten wie diesen scheint mir der Tanz überlegen …

Neumeier pur auch in der nächsten Szene, nachdem Nanina Armand Marguerites Brief überbrachte: Jahre später wird der Choreograph in Nijinski ähnliches schaffen. Auch Erinnerungen an Denis Cherevychko als Vaslaw blitzen auf, während Timoor Afshar Armands Verzweiflung bewegungsreich ins Rund schreit: eine verletzte, gebrochene Seele.

» Die Kameliendame «, Prolog: Die Auktion von Marguerite Gautiers Habseligkeiten in der Ausstattung von Jürgen Rose © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

» Die Kameliendame «, Prolog: Die Auktion von Marguerite Gautiers Habseligkeiten in der Ausstattung von Jürgen Rose

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

X.
Eine Augenweide sind die Kostüme und Bühnenbilder von Jürgen Rose: 18. Jahrhundert für Manon, 19.  für Marguerite und Armand. Gaze-Vorhänge, zum Teil durchbrochen, erlauben schnelle Bilderwechsel. John Neumeier dachte Die Kameliendame filmisch, mit Vor- und Rückblenden. Sein Lichtkonzept fügt sich mit den wenigen Requisiten zu einem Ganzen: eine Chaiselongue, ein hoher Spiegel, ein Schreibtisch, eine Bank, ein paar Blumen-Bouquets auf Sockeln, Kronleuchter fahren aus dem Schnürboden herab: Es ist alles da. (Und welche tolle Bühne gäbe dies für Verdis Oper anstelle der eigentlich nur zum Sperrmüll taugenden Ausstattung der aktuellen Produktion.) Der » Goldene Ball «, in der Armands Schmerz die Oberhand gewinnt, endet mit einem Scherenschnitt: schwarze Silhouetten gegen den goldenen Bühnenhintergrund, dazu Chopins Musik aus der Grande Polonaise brillante für Klavier und Orchester in Es-Dur, op. 22. Ein überwältigendes Bild.

XI.
Daß Verdi diese ergreifende Situation nicht komponiert hat, ist mir unbegreiflich, schrieb John Neumeier in seinem Buch » In Bewegung « über Marguerites letztes Zusammentreffen mit Armand: Sie hat sich weggestohlen vom Herzog, in seinem Mantel. Tanz funktioniert anders als Oper. Verdi wußte genau, was er wollte. John Neumeier auch.

Der letzte pas de deux der Liebenden: Nun ist Marguerite die um Verständnis Flehende, Armand der ihr Vorwürfe Machende. Die Zunge ist ihr gebunden, aber ihr Körper schreit ihm ihre Liebe und die Hoffnungslosigkeit entgegen. … Einmal noch ihn spüren. Ihn, die große Liebe ihres zu kurzen Lebens. Einmal noch eins werden. Nur eine Nacht noch verbringen mit ihm, von dem ihr Herz übervoll ist. Ketevan Papava und Timoor Afshar gelingt an diesem Abend, einen selbst die Musik vergessen zu lassen.

» Die Kameliendame «, 3. Akt: Marguerite (Ketevan Papava) bei ihrer letzten Liebesnacht mit Armand (Timoor Afshar) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

» Die Kameliendame «, 3. Akt: Marguerite (Ketevan Papava) bei ihrer letzten Liebesnacht mit Armand (Timoor Afshar)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

XII.
Die sterbende Manon und Des Grieux, dazwischen Marguerite. Realität und Fiktion verschwimmen, hier wie da: Kenneth MacMillan … — nein, doch John Neumeier. Danach Marguerite in ihrer Wohnung: verzweifelt, am Boden zerstört. Wie damals Nina Poláková als Romola Nijinski, als sie des Ausmaßes der Krankheit ihres Mannes gewahr wurde …

Marguerites Kraft reicht nicht mehr für die letzte Eintragung in ihr Journal, in dessen Lektüre, auf der anderen Seite der Bühne, Armand bereits vertieft ist. Wieder erklingt das Largo aus der Sonate in h-moll: liebevoll; zärtlich. Werde ich es jemals wieder hören können, ohne daß diese Bilder, diese Emotionen, in mir aufsteigen? Die Lichter verlöschen. Zuerst Marguerites über ihrem noch warmen Körper, danach jenes des in ihrem Tagebuch lesenden Armand …

Eindrucksvoll. Erschütternd — bis ins Mark.
Wie macht das dieser John Neumeier?

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