Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Die Oper — Kritische Zeit für eine Kunstform? (VI)

Von Thomas Prochazka

Der sechste Teil der Serie nimmt Ludovic Téziers Versuch einer Solidaritätsadresse zum Anlaß, im Angesicht dunkler Häuser nachzudenken über notwendige (und wohl unausweichliche) Korrekturen der Fehlentwicklungen im Opernbetrieb.

II.
Am 24. März 2020 reagierte Ludovic Tézier mit einen zwischen Manifest und offenem Brief changierenden Text (französische Fassung hier) auf die existentielle Bedrohung der Sänger durch die SARS-CoV-2-Pandemie. Darin forderte der französische Bariton größere Solidarität der Opernhäuser und ihrer Direktoren mit den Sängern, um die »Familie« der Opernschaffenden »vor dem Untergang zu retten«. Und um im selben Atemzug feststellen zu müssen, daß diese Familie wohl eine »illusorische« ist.
Willkommen in der Realität.

III.
Téziers Verweis auf »die jüngsten« Kollegen, »deren Überleben vom nächsten Honorar abhängt«, offenbart allerdings eine eingeschränkte Sicht auf das, was uns in den Jahren nach der medizinischen Bewältigung dieser Pandemie erwarten wird: eine neue Wirtschaftsordnung, erkauft mit den Konkursen von mehr Unternehmen, als wir uns vorstellen können. (Viele mögen freilich schon zuvor auf tönernen Füßen gestanden sein. Man wird ihr Verschwinden trotzdem nicht mangelhafter Führung, sondern dem Virus anlasten.) Und einigen Millionen Arbeitslosen in Europa. Da, fürchte ich, werden die Künstler jene kleine Gilde Téziers bilden, die hinter den alleinerziehenden Verkäufern und Coiffeuren, den Team-Assistentinnen und Buchhalterinnen zurückstehen wird müssen.

IV.
Der Text des Baritons provoziert jene Frage, die nur wenige in der Branche ehrlich beantworten wollen: »Gibt es zuviele Sänger?«

Der Befund scheint mir ernüchternd. Jahr für Jahr bewerben sich mehr als 300 Sänger für die 20 Studienplätze an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien.1 Aus deutschen Landen heißt es: »Wir lassen zuviele Studierende von den falschen Professoren ausbilden.« Die Folge dieses weltweit praktizierten, volkswirtschaftlichen Wahnsinns ist ein Sängerprekariat. 

Piotr Beczała setzt noch eins drauf: »In der Ausbildungsphase sind Leute gelandet, die in der Musikwelt gescheitert sind: Sänger, die — aus den verschiedensten Gründen — keine Karriere gemacht haben.«2 Offene Worte von einem, der es geschafft hat.

Die aktuellen digitalen Initiativen der Opernhäuser lehren den Opernfreund schnell, daß auch die vermeintlich »ersten Häuser« nur mit Wasser kochen. Die Sängerleistungen sind dort nicht besser als an manchmal herablassend als »Provinz« bezeichneten Häusern der zweiten und dritten Kategorie. »Ich habe Schlimmes erwartet«, meldete sich ein Sänger nach der Fidelio-Urfassung an der Wiener Staatsoper. »Aber nicht so etwas. Diese Katastrophe übertraf meine schlimmste Befürchtungen. Als ich vor Jahren begann, hätten sie solche Sänger nie auf die Bühne gelassen. Nicht die Direktoren, nicht die Studienleiter und auch die Regieassistenten nicht.« Angesichts solchen Fachbefundes fällt es schwer, diese »Familienmitglieder« im Geschäft halten zu wollen. Oder?

Denn längst weiß man in der Branche, daß, wer interessante, vielversprechende Stimmen entdecken will, in die übel beleumdete Provinz fahren muß. Aber das ist halt mühsam… Und daß, was Opernfreunden heute in Besetzungen oftmals als »Nonplusultra« angepriesen wird, nach Brigitte Fassbaender das Ergebnis von »Besetzungsmachenschaften von Leuten« ist, »die von Stimmen über­haupt nichts mehr verstehen«.2 Ebenso ist es ein offenes Geheimnis, welche Intendanten inadäquate Gesangsleistungen nach einigen Stunden … äh … »gesellschaftlicher Unterhaltung« doch für tauglich befinden. Und welche nicht.

V.
Immer wieder erreichen einen Berichte von Gesangsstudenten, die, des Notenlesens unkundig, ihrer Arien anhand von Youtube-Videos einstudieren. Und die beleidigt sind, wenn man ihnen auf den Kopf zusagt, daß z.B. die eben vorgetragene Interpretation der Wahnsinnsszene aus der Lucia di Lammermoor die Aufnahme der Edita Gruberova aus dem Jahr soundso ist. (Natürlich garniert mit zumindest denselben technischen Schlampereien.) Oder von jungen Sängern, die das Angebot eines erfahrenen, ehemals ganz Großen zur — kostenlosen! — gemeinsamen Arbeit ausschlagen, denn am Wochenende hätten sie bereits etwas vor…

Wie es die guten jungen Sänger gibt, die die Intendanten und Casting-Direktoren freilich nicht bei Wettbewerben am Silbertablett serviert bekommen, sondern suchen müssen, gibt es auch die guten Gesangslehrer. Es sind selten jene Sänger mit den glänzenden Karrieren (aus den verschiedensten Gründen). Doch oft solche, die ihre Partien genau studiert, musikalisch Takt für Takt durchgearbeitet haben. Die wissen, daß die Rezitative das Wichtigste sind. Die die Arien als letzte Stücke studieren. Doch solche Lehrer findet man kaum an den Musikuniversitäten. Piotr Beczała: »Das ist für mich das Absurdeste: Das Ausbildungssystem basiert auf Leuten, die, anstatt Gesang, ihre eigenen Komplexe und Probleme unterrichten.«3

VI.
Man verstehe mich nicht falsch: Jeder studiere, wozu er Neigung verspürt. Er sei seines Glückes Schmied. Doch erwarte er nicht, daß ihn die Allgemeinheit — die alleinerziehende Verkäuferin mit Samstagsdiensten und langen Arbeitszeiten, das Personal in der Tourismus-Branche mit Wochen ohne einen freien Tag in der Saison — erhalte. Denn das wird diesmal nicht passieren. In der Zeit nach SARS-CoV-2 wird der eiserne Besen kehren; der Ballast abgeworfen werden. Und — eine Hoffnung, dies! — die Sängerausbildungs- und vermarktungsindustrie so nicht mehr fortgeführt werden können.

Dann werden viele Studenten erstaunt bemerken, daß man die schönen Künste nicht studieren kann wie Mathematik oder Jus. Daß man für sie brennen muß; sich nach ihnen verzehren; an ihnen reiben. Daß sie jeden Tag auf’s Neue erobert werden wollen. Und daß eines am Ende eines Gesangsstudiums weder ausgebildeter Opernsänger ist noch Anspruch auf eine Anstellung hat… — Aber man muß sich auch nicht fürchten: Die wirklich guten werden überleben.

VII.
Angst? Um die Kunstform Oper? — Im Gegenteil, das Publikum wird begierig wieder in die Opernhäuser strömen. Denn an ein Live-Erlebnis reicht keine noch so gute Einspielung heran. Das dunkle Haus, der Moment, wenn der erste Akkord erklingt, der Vorhang sich hebt… Vor dem Fernsehapparat, ja selbst im Kino bleiben wir Beobachter; nicht Empfangende, wie in den Häusern.

Aber vielleicht wird die dann zwingende Sparsamkeit dort zu einer Abkehr von sechs Wochen Probenzeit führen, wo drei mehr als ausreichend sind. Wird der Pragmatismus in der szenischen Gestaltung wieder die Oberhand gewinnen, Pools, Koffer und Trenchcoats passé sein. Werden wieder die Sänger, die Dirigenten, die Musik im Vordergrund stehen. Und vielleicht wird das zurückgekehrte Publikum, nicht mehr so gelangweilt, die Verantwortlichen (gerne auch spontan und lautstark) wieder wissen lassen, für welche Art von Vorstellungen es sein Geld auszugeben gesonnen ist. Man stelle sich vor, es würde wieder en vogue, kenntnisreich zu besetzen und nur die besten ihres Faches zu engagieren!

VIII.
Nein, nein, keine Bange: Zwei Weltenbrände hat unsere »alte Dame« schon überstanden. Sie wird auch das SARS-CoV-2-Virus überleben. Und uns, ihren treuen Anhängern, danach schöner und begehrenswerter erscheinen als je zuvor.

  1. Ileana Cotrubas, Manfred Ramin: »Die manipulierte Oper«, Verlag Der Apfel, ISBN 978-3-18545-118-3, Wien, 2017, S. 25.
  2. »Oper — das knallharte Geschäft.« Ein Film von Stefan Braunshausen. ZDF/3sat, Juni 2019 [23:31]
  3. Ebenda, [28:28]

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