» La bohème «, 2. Akt: Das Café Momus im Bühnenbild von Franco Zeffirelli und den Kostümen von Marcel Escoffier © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» La bohème «, 2. Akt: Das Café Momus im Bühnenbild von Franco Zeffirelli und den Kostümen von Marcel Escoffier

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Giacomo Puccini:
» La bohème «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Die Saison beginnt » in Abänderung «. Nach dem Ausfall von Sopran und Tenor für Halévys La juive engagierten Direktor Bogdan Roščić und sein Team mit Vittorio Grigolo einen namhaften Tenor, mit Anna Netrebko die vielleicht bekannteste Sopranistin unserer Tage. (Die noch dazu in Wien wohnt.)

II.
La bohème also, in der Produktion von Franco Zeffirelli und Marcel Escoffier.

Die Vorstellungen sind ausverkauft. Ebenso jene der Carmen in den folgenden Tagen, mit Elīna Garanča und Piotr Bezcała. Das entlarvt die seit Jahren gebrauchte Erklärung als Märchen, wonach sich Vorstellungen im September weniger glänzend verkaufen als zu anderen Zeiten. Engagiert ein Direktor dem Publikum als die besten ihres Faches bekannten Sänger, strömt dieses wie eh und je — behauptete Pandemie-Angst hin, tatsächliche Teuerung her.

III.
Eimaliger Exkurs zu Anna Netrebko et al.: Wiederholt fordern Zeitgenossen nicht mehr und nicht weniger als Auftrittsverbote. Geradeso, als hätte es die finsteren Zeiten (© Hilde Spiel) vor der Mitte des 20. Jahrhunderts nie gegeben. Für die in Krasnodar Geborene ebenso wie für andere Sänger- und Dirigentenkollegen russischer Staatsangehörigkeit oder Wirkungsstätte; — ob empfundener Nähe zu Präsident Wladimir Putin und/oder in der Vergangenheit gesetzter Handlungen. Begründet werden diese, vermeintlicher moralischer Überlegenheit entspringende Forderungen in Ermangelung strafrechtlicher Tatbestände mit behaupteten menschlichen Defiziten.

Wer sich in solcher, leicht als Pharisäertum zu entlarvenden Entrüstung und Doppelmoral ergeht, möge sein durch Jahre währendes Schweigen erklären, als Peter Gelb, General Manager der Metropolitan Opera, bis vor kurzem nicht zögerte, Anna Netrebko oder Waleri Gergiew zu engagieren. Möge die Frage beantworten, warum er nicht schon seit 2014 lautstark Einspruch erhoben hat, als Gergiews Bestellung zum Chefdirigenten in München verhandelt wurde. Als Netrebko den Opernhäusern für ausverkaufte Vorstellungen zu Höchstpreisen bürgte und sich das Feuilleton in hymnischem Jubel überschlug. Und warum er bislang keine Rücktrittsaufforderungen an all jene Abgeordneten des deutschen Bundestages erhob, welche am 25. September 2001 dem Präsidenten der Russischen Föderation eine standing ovation darbrachten. Vor dem 24. Feber 2022 zählte Moral offenbar nicht als Münze, mit der sich gesellschaftliches oder politisches Kleingeld gewinnen ließ.

An diesem Abend führte demonstrativer Auftrittsapplaus für Anna Netrebko zu ebenso vorhersehbaren, lautstarken Mißfallenskundgebungen; — doch ohne daß die Vorstellung deshalb unterbrochen wurde. In diesem Zusammenhang wäre zu diskutieren, ob gesellschaftspolitische Divergenzen nicht außerhalb der Theater und Opernhäuser verhandelt werden sollten. Ob in den Opernhäusern nicht der — gerne durchaus auch lebhafte — Streit um die gebotene musikalische und szenische Qualität zu führen wäre. Denn da wäre einiges zu kommentieren gewesen. Solche Reaktion des Publikums unterblieben allerdings.

Direktor Roščić tat mit dem Engagement von Anna Netrebko nichts anderes als seine Arbeit. Anna Netrebko war aufgerufen, die ihre zu tun. Ihre Leistung allein gilt es zu analysieren und darüber zu berichten. Mit Urteilen über den Menschen Anna Netrebko sollten wir vorsichtig sein.

IV.
Wie war der Abend? Nun, zweigeteilt: Bertrand de Billy ließ vor der Pause unstet aufspielen. Zu oft grob, manchmal expressiv. Der musikalische Fluß wollte sich nicht einstellen, die Bilder zerbrachen in ihre Szenen. Von der leichten, federnden Lesart eines Carlos Kleiber war man ebenso weit entfernt wie von Tullio Serafins lebenspraller (mit Renata Tebaldi und Carlo Bergonzi, 1959 für die DECCA festgehalten). Die Schroffheit wich erst im dritten Bild, gab Raum für manche modellierte instrumentale Phrase. Dennoch wollten die Szenen nicht nahtlos ineinander übergehen, hörte sich manches maniriert an.

Hin und wieder fehlte es auch an der erforderlichen Koordination mit der Bühne; vor allem in den Chorszenen zu Beginn des zweiten, aber auch bei den bestenfalls ungefähren Einsätzen der Milchfrauen im Winterbild. Das war hörbar nicht der beste Abend des Chors der Wiener Staatsoper. Und wen diesmal der kleinen Näherin Trennung von Rodolfo, ihren Abschied von der Welt nicht zum Taschentuch greifen ließ, mußte die Ursache nicht bei sich suchen.

Sendefähiges Material — ORF III zeichnete die Vorstellung für eine Ausstrahlung am 18. September auf — bot die Anfangsstunde des Eröffnungsabends der Saison jedenfalls wenig. Dazu gesellten sich Patzer der Lichttechnik: Parpignols Szene vor dem Café Momus begab sich in fast vollständiger partieller Bühnendunkelheit, und am Beginn des vierten Bildes dauerte es Minuten, bis sich eine mildtätige Seele zum Ausschalten der Saalbeleuchtung entschloß.

» La bohème «, 4. Akt: Anna Netrebko (Mimì) und Vittorio Grigolo (Rodolfo) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» La bohème «, 4. Akt: Anna Netrebko (Mimì) und Vittorio Grigolo (Rodolfo)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
George Peteans Stimme offenbarte in der Partie des Marcello einige Probleme: Vor der Pause gesellte sich den Tönen im oder über dem passaggio merkbare Heiserkeit hinzu. Höher notierte Phrasen klangen den ganzen Abend hindurch angestrengt, auch wenn ab dem dritten Bild eine signifikante Besserung festzustellen war. Jene stimmliche Virilität, mit der uns Marcello als Gegenpol zum träumerischen Rodolfo vorgestellt werden sollte, suchte man allerdings vergebens.

Die Musetta der Nina Minasyan entwickelte in den seltensten Momenten das erforderliche stimmliche Volumen. Die Stimme dünnte, wann immer Puccini die Gesangslinie in Richtung passaggio absteigen ließ, bis zur Unhörbarkeit aus. Das gesangstechnische Engagement — etwa in Quando me’n vo’ — ließ viele Wünsche offen. Phrasen wollten nur wenige gelingen, die zentrale Arie des zweiten Bildes versank in Beiläufigkeit. Diseer Eindruck haftete auch im zweiten Teil des Abends: Minasyans Musetta hatte Marcellos (ohnehin auf Gesangskultur bedachten und daher rücksichtsvoll intonierten) Zeilen in der Auseinandersetzung vor der Schenke kaum vokale Kraft entgegenzusetzen.

VI.
Martin Häßler war wiederum als Schaunard aufgeboten; der, wie ich einstens festhielt, brave Junge aus gutem Haus unter den bohèmiens. Wortdeutlich erfreute der Musiker bei seiner Solo-Szene im ersten Bild; wiewohl seine Phrasierungskunst noch immer zu wünschen übrigläßt. Günther Groissböck, der mit Beginn der kommenden Saison wieder ins Ensemble der Wiener Staatsoper zurückkehren wird, debutierte als Colline. Mit der » Mantelarie « bot er gesanglich die beste Leistung des vierten Bildes, auch wenn seine Stimme selbst in der Tiefe für einen Baß immer ungewöhnlich hell klingt. Doch da entstanden Phrasen, da strebten Wort und Ton einem Sinn zu.

VII.
Vittorio Grigolo ließ als Rodolfo die Grundlage jeden Operngesangs missen: den geraden, vollen, doch fokussierten Ton. Anstelle eines messa di voce, des An- und Abschwellen des Tones, war immer wieder ein Verebben der Stimme am Ende der Phrasen zu notieren: Hinweis auf fehlerhafte Technik und Verspannungen des Kehlkopfes. Das legato funktionierte nur in der Mittellage und auch dann nicht immer zufriedenstellend: Che gelida manina beispielsweise gebrach es jeder Silbenbindung auf den eröffnenden ›as‹, die Höhepunkte wurden, weil zumeist dem Orchester voreilend, verschenkt. Grigolo servierte die Spitzentöne zumeist mit Stentorstimme; — wo doch vielfach Innigkeit und tonaler Fokus gefordert gewesen wären. Im Bereich knapp über dem passaggio klang die Stimme des Italieners beengt, manchmal rauh. Das Zusammenwirken mit dem Orchester litt oftmals unter Grigolos rhythmischer Ungenauigkeit.

VIII.
Anna Netrebko ist Bewunderung dafür zu zollen, wie sie die Mißfallenskundgebungen von Teilen des Publikums bei ihrem ersten Auftritt beiseite schob. Sich ihrer Aufgabe zu widmen suchte.

Jenen, die zuhören wollten, wurden rasch gewahr, daß sich der seit fast zwei Jahrzehnten betriebene Raubbau an Netrebkos Stimme nicht länger verheimlichen läßt: Der gebürtigen Russin ehemals lyrischer Sopran (mit welchem sie ihre Karriere begründete) wandelte sich zum Abglanz seiner selbst. Vermochte einzig in der Mittellage, unter Zurücknahme und Besinnung auf einst Gelerntes noch zu überzeugen, bei ansonsten vor allem zu Beginn flackernder Tongebung. Anstatt mit eng umgrenztem passaggio singt Netrebko mit einer (geschätzten) Quart im Übergang von der — von ihr ohnehin immer nur zögerlich eingesetzten — Bruststimme zur Kopfstimme. An die Stelle des aktivierten unteren Registers ist längst eine sehr oft künstlich abgedunkelte Kopfstimme getreten. Von Netrebkos Anhängern wird diese gerne mit » schwerem, dunklen Rotwein « verglichen — und gelobt, was aus gesangstechnischer Sicht zu tadeln wäre.

Netrebkos Gestaltung der Mimì überzeugte vor allem im dritten und vierten Bild: in den Szenen mit Rodolfo, wo sie, zurückgenommen schauspielernd, ihre Anhänger (und wohl auch einige Rezensenten) mit hell klingenden Spitzentönen und immer noch funktionierender Phrasierung bezauberte. Wo sie, kurz vor ihrem Hinscheiden, » in Abänderung « der Szenenanweisungen, stehend das Duett mit ihrem Liebsten sang. Es kümmert wenige, daß viele Töne nur mehr und nicht immer durch übermäßige Anstrengung, durch besonderen Krafteinsatz, durch eingeübte Tricks (wie eine oftmals über die Zähne geschobene Unterlippe), durch Verspannungen des Kehlkopfes, durch erhöhten Stimmdruck erreicht werden.

IX.
Dieser Abend: Kulturhaftes und Triebhaftes, miteinander verflochten …
Ecco.

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