»The Exterminating Angel«: Die Gäste der Nobiles richten sich für die Nacht ein © Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

»The Exterminating Angel«: Die Gäste der Nobiles richten sich für die Nacht ein

© Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

Thomas Adès:
»The Exterminating Angel«

Salzburger Festspiele

Von Thomas Prochazka

Erwarteter großer Applaus im nicht ausverkauften Kleinen Festspielhaus. (Und ja, Weigerung, dieses als »Haus für Mozart« zu bezeichnen. Letzteres steht an der Wienzeile in Wien-Mariahilf.) Mißt man den Applaus jedoch nicht nach seiner ersten Intensität … müssen Zweifel angemeldet werden.

II.
Die Handlung von Thomas Adès’ Oper basiert auf dem Drehbuch des 1962 in Mexico gedrehten Film El ángel exterminador (deutsch: Der Würgeengel) von Luis Buñuel und Luis Alcoriza. Cineasten unter den Opernfreunden wissen, daß Buñuel die Anregung zum Film bereits im Paris der 1920-er Jahre von einem erfolgreichen, aus der Zeit gefallenen Hollywood-Drehbuchautor namens Gil Pender erhielt:

Nach einem festlichen Abendessen in der Villa von Edmundo de Nobile (Charles Workman) und seiner Frau Lucia (Amanda Echalaz) versammeln sich die Gäste im Musikzimmer. Dort spielt Blanca Delgado (Christine Rice) eine Klaviersonate. Als die Zeit zu gehen gekommen ist, vermag keiner der Anwesenden den Saal trotz offenstehender Türen zu verlassen.

Zurückgeworfen auf sich selbst, hungrig, durstig und psychisch unter Druck, bröckelt die dünne Schicht der Zivilisation rasch ab. Sergio Russell (Sten Byriel), ein älterer Gast, stirbt, die Verlobten Beatriz (Sophie Bevan) and Eduardo (Ed Lyon) schließen sich in einem Schrankraum ein und begehen Selbstmord.

Die Gäste fordern Nobiles Tod als Opfer für ihre Befreiung. Weder Doctor Carlos Conde (gleich Hagen die Fäden ziehend: John Tomlinson) noch Colonel Álvaro Gómez (David Adam Moore) gelingt es, sie davon abzubringen. Eben als der Gastgeber einwilligt, dieses Opfer aus freien Stücken zu erbringen, vermeint die Opernsängerin Leticia Maynar (Audrey Luna mit für die Lucia di Lammermoor wohl kaum geeigneter Stimme) zu erkennen, daß sich in diesem Moment alle an genau denselben Positionen befinden, als die merkwürdige Gefangenschaft begann. Von ihr angespornt, wiederholt man die Dialoge und Handlungen vom Abend der Einladung. Die Sängerin gibt der Aufforderung, eine Arie zum besten zu geben, nach. Plötzlich ist es allen möglich, gemeinsam die Schwelle zu überschreiten. Doch ihre Freiheit währt nicht lange: Beim Requiem, das Lucia und Edmundo de Nobile im Falle ihrer Rettung abzuhalten gelobten, können alle Kirchenbesucher das Gotteshaus nicht mehr verlassen…

»The Exterminating Angel«: Amanda Echalaz (Lucía), Charles Workman (Nobile), Ed Lyon (Eduardo) und Sten Byriel (Russell) © Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

»The Exterminating Angel«: Amanda Echalaz (Lucía), Charles Workman (Nobile), Ed Lyon (Eduardo) und Sten Byriel (Russell)

© Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

III.
Seit 2009 arbeiteten Thomas Adès und Tom Cairns an The Exterminating Angel. Der Komponist, Sohn einer Kunsthistorikerin, sah mit 14 Jahren zum ersten Mal Buñuels El ángel exterminador — laut Adès’ Worten der Beginn einer Obsession, die in seiner dritten Oper gipfelte.

Tom Cairns lieferte sechs Fassungen des Librettos, ehe die erste Note zu Papier gebracht wurde. Aus Gründen der Übersichtlichkeit reduzierte der Librettist die 21 handelnden Personen aus Buñuels Film durch Zusammenziehung von Personen auf immerhin noch 15. Unter Mitarbeit von Thomas Adès entstand so eine Ensemble-Oper. Eine eingehende musikalische Charakterisierung der einzelnen Personen erschien angesichts der großen Zahl handelnder Personen nicht mehr möglich.

IV.
Thomas Adès fasziniert an Buñuels Film, daß es keine Bewegung gibt. In einem im Programmheft abgedruckten Interview erzählte er, daß die Walzer von Johann Strauss in ihm ein ähnliches Gefühl hervorrufen, weil zum Verweilen einladen. Der Komponist verwendete daher eigenen Angaben zufolge Strauss-Walzer als Assoziation mit der Welt des eleganten gesellschaftlichen Rituals für den Beginn der Oper und die sogenannte »Panik-Fuge« (© Thomas Adès) im zweiten Akt. In der Fuge werden die Themen der verwendeten Walzer verfremdet und verzerrt gegeneinander gestellt.

Um das erkennen zu können, bedarf es allerdings des vorherigen Studiums der Partitur.

V.
Das Werk beginnt und endet mit Glockenschlägen, welche bei offener Bühne bereits durch das Haus schallen, ehe die Lichter verlöschen und der Komponist als Dirigent seines Werkes vor das Orchester tritt. Die Bühne zeigt ein großes, holzgetäfeltes Tor, welches die Abendgesellschaft zweimal durchschreitet, ehe sie an der Tafel Platz nimmt. De Nobile bringt einen Toast auf Leticia und den Dirigenten Alberto Roc (Thomas Allen) aus.

Rasch kommt es zu gegenseitigen Sticheleien und Tratsch: Wenn etwa Raúl Yebenes (Frédéric Antoun), Silvia de Ávila (Sally Matthews) und ihr Bruder Francisco de Ávila (Iestyn Davies) sich lachend darüber unterhalten, daß Leticia »die Walküre« genannt wird.

VI.
Bühnenbild und Kostüme von Hildegard Bechtler (zweckmäßig und gediegen ersteres, elegant letztere) spiegeln das Lebensgefühl der herrschenden Klasse im Spanien in den 1960-er Jahren wieder: die älteren Damen im langen Abendkleid, die jüngeren in kurzen (Cocktail-)Kleidern, die älteren Herren im Frack, die jüngeren im Smoking. Tempora mutantur.

VII.
Ein intelligenter Einsatz der Drehbühne erlaubt verschiedene Sichtweisen auf den Salon und die darin Gefangenen. Das Textbuch geizt nicht mit (Selbst-)Ironie, etwa wenn der Colonel nach Sergio Russells Tod feststellt: »Señor Roc hätte an seiner Stelle sterben sollen. Was bedeutet schon ein Dirigent mehr oder weniger auf der Welt?«

Die Welt könnte mehr britischen Humor vertragen.

»The Exterminating Angel«: Der Spuk scheint vorbei, die Gäste verlassen das Haus der Nobiles © Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

»The Exterminating Angel«: Der Spuk scheint vorbei, die Gäste verlassen das Haus der Nobiles

© Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus

VIII.
Ich sah und hörte viel an diesem Abend. Das Buñuelsche Drama mit Änderungen schnurrte wie ein Uhrwerk vor einem ab, die Sänger (einzelne auszunehmen wäre ungerecht) waren stimmlich gut disponiert und ebenso mit Eifer bei der Sache wie das ORF Radio-Symphonieorchester Wien und der Salzburger Bachchor. Und doch kam das Ganze irgendwie nicht vom Fleck — finale Bravo-Rufe und Getrampel im bei weitem nicht ausverkauften Kleinen Festspielhaus hin oder her.

IX.
Man ist hier, die Wahrheit zu sprechen.

Also denn: Es lag an der Musik. Thomas Adès’ Komposition erinnerte an Benjamin Britten, konnte jedoch dessen Eindringlichkeit nie erreichen. Sie plätscherte, über weite Strecken tonal, als Untermalung der Bühnenhandlung dahin. Des Opernfreunds Verlangen nach Gliederung, nach Nummern, Ensembles, nach Melodien: Gestern blieb es ungestillt. Emotionale Höhepunkte oder sofort ins Ohr gehende Melodien … bot die Musik nicht.

X.
Adès setzte in The Exterminating Angel die Gesangsstimmen harmonisch ein — statt melodisch. Alles schon wegkomponiert? Wer nicht nur beim Parkett, sondern auch auf den Rängen reüssieren will, muß jedoch ebendies bieten. … Kolonovits tat dies mit seinem El Juez. (Mag da das Feuilleton noch so über ihn spotten.)

Im Ende ermißt sich der Erfolg einer Oper nicht an der Komplexität der Partitur oder den Schafen auf der Bühne. Sondern am Kassenrapport.

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