»Le nozze di Figaro«, 1. Akt: Emily D'Angelo (Cherubino), Riccardo Fassi (Figaro), Liubov Medvedeva (Barbarina), Nadine Sierra (Susanna), David Oštrek (Antonio) und Stephan Rügamer (Don Basilio) © Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

»Le nozze di Figaro«, 1. Akt: Emily D'Angelo (Cherubino), Riccardo Fassi (Figaro), Liubov Medvedeva (Barbarina), Nadine Sierra (Susanna), David Oštrek (Antonio) und Stephan Rügamer (Don Basilio)

© Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

Gedanken zu… »Le nozze di Figaro« in Berlin

Staatsoper unter den Linden, Berlin

Von Thomas Prochazka

Vincent Huguet verlegt die Handlung in die 1980-er Jahre und befreit sie so von jenem vorrevolutionären Ballast, der unserer Zeit den Blick auf das Wesentliche von Da Pontes Libretto verstellt. Maestro Barenboim erzielt bei verkleinerter Besetzung der Staatskapelle Berlin mitunter jenen flächenhaften Klang, den wir bei Dirigenten älterer Generationen schmerzlich vermißten. Und die deutsche Hauptstadt hat — endlich! — einen neuen Figaro.
(So waren, in etwa, die Begebenheiten.)

II.
Erinnern Sie sich noch an die 1980-er Jahre? An jene großartige Zeit, als der Stoff für Trainingsanzüge glänzend wurde, die Sweatshirts aufkamen und man in der besseren Gesellschaft nur etwas galt, wenn man im seidenen Hausanzug durch die Wohnung lief? Als die Sakkos und Blazer weit und deren helles, längsgestreiftes Innenfutter bei den aufge­krempelten Ärmeln sichtbar getragen wurden? Als die Biker-Lederjacken und Westernstiefel die Städte eroberten? Man in den Discos weiß trug, damit die von den Spiegelkugeln reflektierten Farbtupfen darauf ja gut sichtbar waren? Man endlich auch allein ausgehen konnte, weil ohnehin jeder für sich tanzte, das heißt, sich irgendwie zum Takt der Musik bewegte? Als die Kühlschränke aussahen wie jene aus Amerika, dem Mutterland des Fortschritts: fast mannshoch, rundlich und so den Reichtum des Haushaltes nachhaltig betonend?

All das und noch mehr wuchteten Vincent Huguet mit seiner Kostümbildnerin Clémence Pernoud und der für die Szene zuständigen Aurélie Maestre auf den Bühnenboden der Staatsoper unter den Linden. In des Conte d’Almaviva Arbeitszimmer stand ein ausgestopfter Leopard hinter einem Ledersofa. Diesen Leopard hatten wir alle besitzen wollen, nachdem wir ihn in Dynasty — The Denver Clan gesehen hatten. Doch unsere Wohnzimmer waren zu klein, und die Tapeten mit ihren psychedelischen Mustern stammten noch aus den 1970-er Jahren. (Außerdem hätte sich die ausgestopfte Katze, die Platz gefunden hätte, schließlich jeder leisten können.)

An die güldene Wand hinter des Conte d’Almaviva Schreibtisch ließ Aurélie Maestre zwei Portrait-Drucke von Rosina im Stil Andy Warhols hängen. Rosina, die ehemalige Rock-Sängerin und nun Frau ihres seinerzeitigen Managers. (Sie wissen ja, wie’s so zugeht in der Branche.) Mehrere Langspielplatten — diese großen, die analog abgetastet wurden für den exzellenten HiFi-Hörgenuß: Sie erinnern sich? — in Gold und Silber, fein gerahmt, zeugten von einer erfolgreichen Karriere. Deshalb wohnen ja alle mit dem Conte und der Contessa unter einem Dach. Deshalb werkt Susanna im schwarzen Négligé unter einem kurzen, offenen Hauskleid in der Küche. Figaro stiefelt mal hier hin, mal da hin, ohne daß man genau wüßte, was er denn den lieben langen Tag so treibt, wenn er nicht gerade dem Conte ein zorniges Ständchen singt, nachdem ihn Susanna »pazzo« genannt und darüber aufgeklärt hatte, welche Pläne der Conte d’Almaviva mit dem Küchen-Wohn-Schlafraum verfolgte.

Jaja, die 1980-er Jahre: Wenn damals jemand als Offizier zu einem Regiment einberufen wurde, stieg man immer auf den großen Küchentisch, die Schirmkappe verkehrt aufgesetzt, während die Herumsitzenden Bier aus der Flasche tranken. Heute sind ja die Küchentische zu klein; — wenn es überhaupt noch welche gibt und man nicht auf zwei Hockern wie an einer Bar nebeneinander das Essen aus dem Restaurant »Die goldene Möwe« einnimmt. (Um den Wohnzimmertisch und das gute Porzellan zu schonen.)

»Le nozze di Figaro«, 2. Akt: Gyula Orendt (Graf Almaviva) und Elsa Dreisig (Gräfin Almaviva) © Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

»Le nozze di Figaro«, 2. Akt: Gyula Orendt (Graf Almaviva) und Elsa Dreisig (Gräfin Almaviva)

© Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

III.
Elsa Dreisig sang als Contessa d’Almaviva ihre Auftrittsarie »Porgi amor« als Reminiszenz an ihre Zeit als Schlager-Star in einem kurzen Glitzerfummel vor dem geschlossenen Vorhang der Lindenoper. Die Barbarina der Liubov Medvedeva tat es ihr mit der »Nadelarie« gleich. Früh übt sich, was einmal eine Rosina II werden will…

Nach getaner Arbeit stieg die Contessa die offene Treppe zu ihrem Ankleidebereich hinauf und wechselte in den pinkfarbenen Hausanzug aus Seide, Plüschpantoffel inklusive. Später ließ Aurélie Maestre vor dem Aufgang eine Wand herunterfahren, damit der Conte etwas hatte, daran er klopfen und dessen Öffnung er verlangen konnte. (Dem Libretto muß schließlich genüge getan werden. Außerdem waren doch diese senkrechten Wände in den 1980-er Jahren der letzte Schrei.) Da der Contessa Zimmer ebenerdig über keine Fenster verfügt, wohl aber im Ankleidebereich, hüpfte Cherubino von dort in den Garten. Daß der Gärtner Antonio einen Ankerhaken an einem Seil daran durch dieses Fenster warf, um danach nicht nur an diesem Seil hochzuklettern, sondern nach getanenem vokalen Beitrag ebenso wieder zu verschwinden, war nur einer der vielen Einfälle Huguets an diesem »tollen Tag«.

Nachdem im dritten Akt Figaro seine Eltern gefunden und die obligate Ohrfeige erhalten hatte, hängten dienstbare Geister Warhols Drucke von Rosina ab und die von Figaro mitge­brachte Disco-Kugel auf, verwandelte sich des Conte Schreibtisch in ein Podest, und alle bewegten sich zur Musik des Mozart’schen Balletts, wie wir uns heute vorstellen, daß man in Deutschland vier Jahre nach dem Erscheinen des Films Saturday Night Fever in den Discos getanzt hatte. (Die tollen 1980-er, Sie wissen schon…)

Der vierte Akt schließlich begab sich unter den Pinien im Garten, denn dorthin locken Susanna und die Contessa den Conte in der »Canzonetta sull’ aria«. Doch die Pinien sind heute auch nicht mehr, was sie noch in den 1980-er Jahren waren: Damals sahen die Früchte in Farbe und Form Orangen zum Verwechseln ähnlich; — zumindest, wenn es nach Huguet und Maestre geht.

»Le nozze di Figaro«, 3. Akt: Katharina Kammerloher (Marcellina), Riccardo Fassi (Figaro), Nadine Sierra (Susanna) und Maurizio Muraro (Bartolo) © Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

»Le nozze di Figaro«, 3. Akt: Katharina Kammerloher (Marcellina), Riccardo Fassi (Figaro), Nadine Sierra (Susanna) und Maurizio Muraro (Bartolo)

© Staatsoper unter den Linden, Berlin/Matthias Baus

IV.
Die musikalische Seite dieses frühen Abends ließ wenig Wünsche offen. In der Übertragung klangen alle Sänger gleichermaßen präsent, sodaß sich der Eindruck eines homogenen Ensembles einstellte. In dieser Hinsicht herrschte also Égalité auch schon in vorrevolutionärer Zeit. Daß alle mit Micro-Ports ausgestattet waren, tat diesem Umstand sicher keinen Abbruch. Elsa Dreisig als Contessa d’Almaviva, Nadine Sierra als Susanna und Emily D’Angelo als Cherubino spielten, was Huguet wollte. Und schafften es, zwischen dem Genuß mehrerer Gläser Whisky auch noch zu singen. Weich klangen alle diese Stimmen, vor allem im so oft geforderten pianissimo. Es wird einige Zeit dauern, bis ich wieder einen Cherubino oder eine Susanna in dieser Qualität hören werde… 

Der Conte d’Almaviva des Gyula Orendt bezog die stimmliche Präsenz aus seiner Mittellage, die darstellerische aus seiner Zeichnung als typischer Franzose. Riccardo Fassi, der auch in Wien schon als Pistola und Figaro zu sehen war, gelang das Kunststück, während »Non più andrai, farfallone amoroso” auch noch rote Grütze an alle um den Tisch Sitzenden auszuteilen, ohne zu kleckern. »Figaro qua, Figaro là…«

Katherina Kammerloher als Marcellina agierte unerschrocken. Sie erschien zum Gerichtstermin beim Conte sogar mit Lockenwicklern im Haar, während der Bartolo des Maurizio Muraro sich in der Arie »La vendetta« achtbar schlug. (Denn so leicht ist die auch nicht zu singen.) Stephan Rügamer assistierte als Don Basilio, und nicht vergessen sein soll auch Siegfried Jerusalem, der die kleine Partie des Don Curzio mit Leben erfüllte.

V.
Die Berliner Staatsoper bot mit dieser Vorstellung jedenfalls den köstlichsten Aprilscherz.

94 ms