»Ariodante«, 2. Akt: Mitglieder des Wiener Staatsballett bei der verstörenden Visualisierung von Ginevras Albtraum: ihrer Folterung und Vergewaltigung © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Ariodante«, 2. Akt: Mitglieder des Wiener Staatsballett bei der verstörenden Visualisierung von Ginevras Albtraum: ihrer Folterung und Vergewaltigung

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Georg Friedrich Händel: »Ariodante«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Ich irrte. Ich irrte, als ich meinte, Ariodante würde uns in der Direktionszeit Dominique Meyers nicht wiederkehren. Leider. Denn die letzte Vorstellung der zweiten Serie gab mehr eine Ahnung des Werkes denn eine Aufführung desselben.

II.
Das lag zu einem Gutteil auch an der musikalischen Leitung des Abends, welche Christophe Rousset und seinen Les Talens Lyriques anvertraut worden war (verläßlich in seinen zwei, drei Einwürfen: der Gustav Mahler Chor). Rousset setzte nicht in jenem Maße auf die orchestralen Akzente und Kontraste, wie dies William Christie in der Premièren-Serie getan hatte. Was aus dem Graben kam, hatte bei Christie interessanter geklungen. Abwechslungsreicher.

Rousset nahm noch langsamere Tempi als Christie. Dagegen wäre nichts einzuwenden; — bliebe der große Bogen erhalten. Doch dem war leider nicht so: Stellenweise (vor allem im ersten und im Verlaufe des dritten Aktes) machte sich Langatmigkeit breit. Ob Rousset Rücksicht nehmen wollte auf seine — abgesehen von Max Emanuel Cenčić — in dieser Musiksprache ungeübten Sänger? Denn Cenčić in der Partie des Polinesso ausgenommen, trat die Staatsoper mit Mitgliedern des Hauses an.
Spar-Barockoper.

III.
Es ist interessant, wie sich die Dinge plötzlich verändern, wenn man Sänger ihres angestammten Habitats beraubt: diesfalls der in Wien üblichen Stimmung von 443 Hz für den Kammerton ›a‹ (oder ›a1‹). Les Talens Lyriques stimmen auf 415 Hz. Das tiefe Sopran-›a‹ klingt dann mehr als einen Halbton tiefer. In Zeiten, in welchen die meisten Sänger ihre Karriere ohne gut ausgebildete Bruststimme bestreiten zu können glauben, ist dieser Umstand alles andere als vernachlässigbar.

»Ariodante«, 1. Akt: Polinesso, Duca di Albania, (Max Emanuel Cenčić) macht Ginevra (Chen Reiss) den Hof. © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Ariodante«, 1. Akt: Polinesso, Duca di Albania, (Max Emanuel Cenčić) macht Ginevra (Chen Reiss) den Hof.

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Man hörte es: Chen Reiss als Ginevra kämpfte, wie schon vor eineinhalb Jahren, damit. Doch schlug sie sich, nimmt man ihre Kollegen und heutige Verhältnisse zum Vergleich, achtbar. Desgleichen gilt für den Re di Scozia des Peter Kellner und den Odoardo des Benedikt Kobel. Wie letzterer eine lose Perücke in ein Requisit verwandelte, ohne daß es vielen Zusehern aufgefallen wäre, verrät den »alten Hasen«.

Josh Lovell ließ in der Partie des Lurcanio seinen nicht großen, in der Höhe keineswegs geforderten Tenor hören. Daß auch er stellenweise mit den tiefen Tönen seiner Partie Probleme hatte, überraschte mich denn doch.

V.
Ich will hoffen, daß Hila Fahima als Dalinda einen rabenschwarzen Tag erwischte. Andernfalls wäre ernste Sorge um ihre Stimme angezeigt.

Meinen Beobachtungen vom Premièren-Abend ist wenig hinzuzufügen. Ausgenommen vielleicht, daß Fahima oftmals distonierte (auch bei den — ohnehin »ausgestellten« und zu laut gesungenen — Spitzentönen), kaum eine Phrase ebenmäßig klang, sich dem »Soubrettigen« ein gequetschter Klang hinzugesellte. Sängerische Visitenkarten klingen anders.

VI.
Soll man in Barockopern Striche einführen, um sich der da capo-Arien zu begeben? Aber gewiß doch; allerdings nur, wenn man auch nicht davor zurückscheut, z.B. die Szene Mime — Wanderer im Siegfried auf ein für durchschnittlich interessierte Opernbesucher erträgliches Maß zu kürzen. Oder im zweiten Akt Walküre kräftig den Rotstift anzusetzen...

Also: nein. — Wir dürfen darauf vertrauen, daß die großen Komponisten wußten, was sie taten. Wie sie ihre Werke konzipierten. Wenn uns also »Scherza infida« zu lang(atmig) erscheint, liegt das an der musikalischen Interpretation: am Sänger, am Orchester, oder an beiden. Gestern, dünkt mich, lag es an Roussets falsch verstandener Rücksichtnahme auf Stephanie Houtzeel. Und an Houtzeels deutlich hörbarer Überforderung in der Partie des Ariodante vom ersten Takt an. Doch ohne technische Meisterschaft ist an eine gesangliche Gestaltung einer Partie, an deren Differenzierung (welche doch bei da capo-Arien geradezu erwartet wird) nicht zu denken. Und dann — wird der Abend lang…

Auch Houtzeels Stimme gebricht es an der Aktivierung des Brustregisters. Das mag für einen Octavian noch vertretbar scheinen (was es in Wahrheit natürlich nicht ist), funktioniert jedoch — zumal bei der tieferen Stimmung — bei der Partie des Ariodante nicht mehr. (»[…] Die Partie findet hauptsächlich im mittleren bis unteren Mezzo-Alt-Bereich (F bis F') statt, viel im sogenannten Brustregister, und muss, um die Männlichkeit zu betonen, oft mit voller, üppiger Tongebung gestaltet werden«, so Erich Seitter im Programmheft.1) Von »Brustregister« oder »üppiger Tongebung« war allerdings gestern bei Houtzeel nicht viel zu hören.

Die Sängerin bot manche tief notierte Passage sogar deklamierend dar (oder war im Zuschauerraum kaum vernehmbar) und griff im Finale zum von Cecilia Bartoli zur vermeintlichen Lösung aller stimmlichen Probleme angewandten Kunstgriff: sich über die Koloraturen mit Kopf- und Kieferbewegungen hinwegzuschummeln…

»Ariodante«, 1. Akt: Stephanie Houtzeel als Ariodante © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Ariodante«, 1. Akt: Stephanie Houtzeel als Ariodante

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Und Max Emanuel Cenčić, einer der Stars der Counter-Tenor-Szene? Seine Darstellung des Polinesso war in Stimme und Spiel introvertierter als jene Christophe Dumaux’. Keine Frage, Cenčić beherrscht sein Metier, weiß die Koloraturen zu gestalten. Doch seine Stimme klingt auch in der tiefen Lage relativ hell, hinterließ mir wenig Eindruck. (Daß sie gestern hie und da ein wenig verschattet, belegt, klang, mag der Abendverfassung geschuldet sein.)

VIII.
Wüßten sich alle Mitstreiter Cenčićs in der Barockoper zuhause, das Werk und die Inszenierung David McVicars (Ausstattung: Vicky Mortimer) besäßen das Potential zu einem großen Abend. Doch bedürfte dazu es seitens der Führung des Hauses anstelle von Lippenbekenntnissen der Besetzung mit den besten Sängern ihres Faches.
So … blieb es ein durchschnittlicher mit mehr Mängeln als Fehlern.

  1. Erich Seitter: »Singstimmen in Ariodante«. Programmbuch der Wiener Staatsoper zu Georg Friedrich Händels Ariodante, Première am 24. Feber 2018, S. 110

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