»Le nozze di Figaro«, 1. Akt: Patricia Nolz (Cherubino), Andrè Schuen (Conte di Almaviva) und Regula Mühlemann (Susanna) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Le nozze di Figaro«, 1. Akt: Patricia Nolz (Cherubino), Andrè Schuen (Conte di Almaviva) und Regula Mühlemann (Susanna)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Wolfgang Amadeus Mozart:
»Le nozze di Figaro«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Nun also auch vor Publikum: die Wiederaufnahme der Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle. Doch mit Fortdauer des Abends wurde deutlich, daß emsiges Schauspiel eine Aufführung musikalisch nicht zu retten vermag. Der Eindruck von Belanglosigkeit machte sich breit.

II.
Es gibt uns Sterbliche — und es gibt die Genies. Der Theatermensch Jean-Pierre Ponnelle zählte zu letzteren. Seine Figaro-Produktion strahlt immer noch südspanisches Flair aus: Bühnenbild, Kostüme, Beleuchtung, alles fügt sich zu einem Bild, dem die Wirklichkeit kaum Stand hielte. Grischa Asagaroff zeichnete für die Einstudierung der Ponnelle’schen Regieanweisungen verantwortlich. Ponnelles Genius ist auch ein Problem des Abends: Diese Inszenierung, geschaffen zu Zeiten, als Publikum und Presse (nicht zu reden von den großen Dirigenten) andere Ansprüche an die Sänger stellten, fordert nebst der stimmlichen Bewältigung auch engagiertes Spiel. Doch letzteres allein wird der Inszenierung nicht gerecht.

III.
Nach der gestreamten Aufführung unter der musikalischen Leitung von Philippe Jordan war nun Antonello Manacorda an das Pult des Staatsopernorchesters berufen. Dieses trat in der wohl kleinstmöglichen Besetzung an. Und, interessant: mehr bedarf’s nicht.

Das heißt: Mehr bedürfte es schon, wäre man nicht nur an der Größe des Klangbildes, sondern auch an der musikalischen Gestaltung der Oper interessiert. So neigte sich die Vorstellung mit Fortdauer des Abends bedrohlich in Richtung Belanglosigkeit. (Daran vermochte auch Tommaso Lepore am Hammerklavier nichts zu ändern, selbst im fein abgestimmten Zusammenwirken mit Tamás Varga am Solo-Cello.) Vom musikalischen Raffinement eines Bruno Walter oder des Ringens um die Freilegung der Hintergründe jeden Tons, jeder Phrase, wie es Nikolaus Harnoncourt im März 2014 im Theater an der Wien betrieb, war Manacorda weit entfernt. Wo blieben, um das Problem an einem Beispiel festzumachen, die Tempo-Modifikationen, das Tänzerische im doch so großartigen Finale des zweiten Aktes?

Mozart und Verdi sind die Steinböcke im musikalischen Tierkreis: Sie legen, wie die strengen Winter, jede stimmliche Unzulänglichkeit offen. Sie erlauben kein Versteckspiel hinter Koloraturen, vermeintlich großem Ton. Mozart und Verdi erfordern pure gesangliche Gestaltung. Das wird zunehmend zum Problem.

IV.
Die Begebenheiten also: Die Sänger-Equipe des Abends wurde den an sie gestellten Aufgaben über weite Strecken nicht gerecht. Wieder war — mit wenigen Ausnahmen — ein bedauernswerter Mangel an stimmlichem Engagement festzustellen. Jenes Engagements, das es den Sängern erlaubt hätte, kontinuierlich und fokussiert den Gesangslinien zu folgen, ohne daß es zu Brüchen im Vibrato gekommen wäre; ohne daß immer wieder die Kontrolle über die Dynamik oder das Gleichgewicht in der Bewältigung von legato und messa di voce verloren gegangen wäre. Weit davon entfernt, das genuine Bemühen jedes Einzelnen in Zweifel zu ziehen, harrt die Frage, warum fast alle Stimmen so flach, so resonanzlos klangen, weiter einer befriedigenden Antwort. (Wenn man nicht die fehlende energetische Aktivierung der unteren Stimmfamilie als eine solche zu akzeptieren bereit ist.)

Nun: All das könnte einem sowohl als interessierter Beobachter wie auch als Zerstreuung suchender Besucher gleichgültig sein. Wäre da nicht der Umstand, daß solches jungen Menschen mit durchaus stimmlichem Potential zehn, wenn nicht 15 Jahre ihrer Karriere raubt.

»Le nozze di Figaro«, 4. Akt: Philippe Sly als Figaro © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Le nozze di Figaro«, 4. Akt: Philippe Sly als Figaro

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Der Moment der Wahrheit: der Eintritt der jeweiligen Figur auf dem Theater. Die ersten Töne, die ersten Phrasen, gleichgültig ob ein Esultate, Celeste Aida oder Porgi amor folgt. Wie klingt die Stimme? Wie wird sie geführt? Welcher Klang, welcher Glanz eignet ihr?

Betreffend den Figaro von Philippe Sly fand ich meine Vorbehalte vom Feber 2021 bestätigt. Mit dem Zusatz, daß diese im Haus noch stärker zu bemerken waren als in der Übertragung. Ein paar gefällige Phrasen, einige gut klingende Töne konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Figaros dieser Qualität finden sich an zweiten, vielleicht auch dritten Häusern (wenn man der Wiener Staatsoper den Rang eines ersten Hauses zugestehen will).

Der erste stimmliche Eindruck von Regula Mühlemanns Susanna: klein. Hell. Soubrettenhaft. Dabei ist diese Partie die wichtigste des Abends. Dreh- und Angelpunkt aller Aktion. Was nützt es, wenn die Canzonetta sull’aria, das Duettino mit der Contessa di Almaviva, sich als Nebeneinander entpuppt anstelle des von Da Ponte und Mozart intendierte Miteinander der beiden Damen? Denn leider blieb auch Maria Bengtsson bei ihrem Rollen-Debut als Contessa farb- und kraftlos; belanglos. Nicht nur, aber besonders bei Dove sono. Denn öfter als einem lieb sein konnte, verschwanden die Stimmen der Damen in den Klangfluten eines von acht ersten Violinen angeführten Mozart-Orchesters.

Nicht glücklicher agierte Patricia Nolz, Mitglied des Opernstudios, bei ihrem Rollen-Debut als Cherubino. Ja, die Partie ist nicht sehr lang. Und, abermals ja, sowohl Non so più cosa son, cosa faccio als auch Voi che sapete sind nicht leicht zu singen. Der andauernde Wechsel zwischen piano, forte und mezzoforte in Cherubinos erster Arie, die — nicht gesondert notierte, weil zu Mozarts Zeiten für alle selbstverständliche — Forderung nach fortgesetztem legato stellen hohe Ansprüche im Hinblick auf die gesangliche Gestaltung. Dennoch: Sollte ein Cherubino an der Wiener Staatsoper nicht anders klingen?

Stephanie Houtzeel agierte als Marcellina ebenso rollendeckend wie Wolfgang Bankl bei — man glaubt es kaum — seinem Wiener Rollen-Debut als Don Bartolo. Hier wie da blieb man hinter den Möglichkeiten und Erwartungen zurück; ebenso übrigens wie Robert Bartneck bei seinem ersten Einsatz als Don Basilio. Wohin des letzteren Reise stimmlich wohl gehen mag? Joanna Kędzior gab als Barbarina eine noch unfertige stimmliche Visitenkarte ab, und Andrea Giovannini stotterte sich durch die Comprimario-Partie des Don Curzio.

Was sollen wir davon halten, daß mit dem Auftreten des Antonio von Hans Peter Kammerer im zweiten Akt eine tragende Stimme das Geschehen an sich riß? Daß diese »Wurz’n« (© Heinz Zednik) auf einmal auch zum musikalischen Zentrum der Aufführung wurde? Antonio, der Gärtner, ist Dein Vertrauter in dieser Oper?, fragte Joyce DiDonato einmal rhetorisch. Und folgerte: Das ist nicht Dein bester Tag …

Ähnliches mag dem Conte di Almaviva des Andrè Schuen an diesem Abend durch den Kopf gegangen sein. Gemeinsam mit seinem Gärtner bildete Schuen das musikalische Zentrum dieser Aufführung. Schuen: eine der Ausnahmen. Sein Conte di Almaviva klang gesund, kräftig, wenngleich eindimensional. Doch der Bariton sang zumindest stellenweise auf Linie, ohne daß eines Sorge haben mußte, die energetische Balance breche beim nächsten Ton.

Über den (angeblichen oder von Asagaroff behaupteten) Dauerärger des Conte di Almaviva gälte es in einer stillen Stunde einmal nachzusinnen. Vielleicht ließen sich auch noch andere Gemütszustände festmachen, an welchen ein Sänger dieser Partie sein Publikum stimmlich Anteil nehmen lassen könnte? Überraschung? Bestürzung? List?

VI.
Es stimmt schon: ein zeitgemäßes, naturalistisches Bühnenbild und schöne Kostüme machen noch keinen Opernabend. Doch sie entschädigen das Auge, wenn sich eine Aufführung nur in seltenen Momenten aus dem Meer der Belanglosigkeit hebt.

47 ms