Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Die Oper — Kritische Zeit für eine Kunstform? (V)

Von Thomas Prochazka

Im vorherigen Teil der Serie ging die Rede über Yannick Nézet-Séguins Meinung zum Operngesang der letzten 30 bis 40 Jahre (wo doch über ein Jahrhundert zu betrachten gewesen wäre). Und darüber, daß seine Äußerungen auf großes Unverständnis schließen lassen.

Nun ist es eines, Maestro Nézet-Séguin mit raschem Federstrich an den Pranger zu stellen. Es ist ein zweites, seine Ansichten argumentativ zu widerlegen. Aber mindestens ebenso notwendig.

II.
Am 11. Dezember 1789 fand am Wiener Hofburgtheater die Première von Antonio Salieris La cifra statt. Die Hauptpartie sang Adriana Ferrarese del Bene, geboren als Adriana Francesca Gabrieli, genannt »La Ferrarese«. Seit 1782 mit Luigi del Bene verheiratet, war »La Ferrarese« 1789 die Geliebte Lorenzo Da Pontes. Da Ponte schuf das Libretto für La cifra. Und seine Geliebte, bekannt für ihren großen Stimm­umfang, der mehr als zwei Oktaven umfaßte, sang die Hauptpartie. (Die Zeiten ändern sich nicht.) Außerdem verfügte »La Ferrarese«, glaubt man zeitgenössischen Berichten, über eine phänomenale Tiefe.

III.
Mozart schrieb am 19. August 1789 an Constanze: »Das Ariettchen, so ich für die Ferraresi gemacht habe, glaub’ ich soll gefallen, wenn anders sie fähig ist es naiv vorzutragen, woran ich aber sehr zweifle.« Das »Ariettchen« wird später als »Come scoglio« in die Musikgeschichte eingehen…

Mozart komponierte »Come scoglio« als zweitteilige Arie (4/4-Takt, Andante maestosoAllegro). Er gestaltete sie einerseits als Variation eines Solos der Eurilla aus La cifra und andererseits als Parodie auf die emotionell ausgehöhlte Gestik der opera seria: Die Hoffnungstonart B-Dur, die übertriebene Gebärde, lockt uns auf eine falsche Fährte. (Oder, wie Stefan Mickisch mit Hinweis auf den ebenfalls in B-Dur stehenden »Braut-Chor« aus Lohengrin schelmisch anmerkte: »Wer nichts weiß, muß alles hoffen. Heiraten Sie nie in B-Dur!«)

IV.
Anders als Salieri, der »La Ferrarese« mit ganze Takte gehaltenen Notenwerten ihre Artistik präsentieren ließ, bettete Mozart Fiordiligis Intervallsprünge organisch in den Gesang ein. Er eröffnet die Reihe der großen Intervalle mit einer fallenden Sext vom mittleren Sopran-›b‹ zum tiefen ›d‹ auf »Co-me«. Damit erzwingt er einen Registerwechsel von der — durch einen Anteil der Bruststimme grundierte — Kopfstimme durch das passaggio1 in das reine Brustregister. Die nächste Phrase — »immo-to resta« — beginnt mit dem mittleren Sopran-›c‹ und führt in einer aufsteigenden Terz zum ›es‹ (›es2‹), ehe sie in einem Oktavsprung zum tiefen Sopran-›es‹ abfällt: ein weiterer Registerwechsel, diesmal vom mit purem Kopfton gesungenen ›es‹ wieder durch das passaggio in das Brustregister.

Der Beginn von Fiordiligis Arie »Come scoglio« aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper »Così fan tutte«, K 588, mit den eingezeichneten Registerwechseln zwecks besserer Nachverfolgung Public Domain

Der Beginn von Fiordiligis Arie »Come scoglio« aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper »Così fan tutte«, K 588, mit den eingezeichneten Registerwechseln zwecks besserer Nachverfolgung

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Die dritte Phrase »contra i venti e la tempesta« beginnt mit einem mehr als eine Oktave umfassenden Sprung vom mittleren ›f‹ (›f2‹) auf das tiefe Sopran-›d‹ und steigt sofort, bei »ven-ti«, wieder vom tiefen ›es‹ — unterhalb des passaggio (reines Brustregister) — zum hohen ›g‹ (›g2‹) auf. Gleich danach erfolgt der nächste Sprung nach unten, diesmal bis zum tiefen ›b‹ und, auf »e« von »e la tempesta«, weiter abwärts zum tiefen ›as‹ auf »la«. Als wäre es damit nicht genug, fordert Mozart sofort darauf den nächsten Registerwechsel zum mittleren ›es‹ (›es2‹ auf »tem-pesta«) und bei der Wiederholung des Textes »e la tempesta« bis zum hohen ›b‹ (›b2‹), ehe die Phrase mit dem mittleren Sopran-›b‹ auf der Tonika ihren Abschluß findet. In diesen ersten 14 Takten der Arie zählen wir sechs Durchquerungen des passaggio und einen Tonumfang von mehr als zwei Oktaven (vom tiefen Sopran-›a‹ bis zum hohen ›b‹. »La Ferrarese« muß über eine hervorragende Bruststimme und eine phänomenale Technik verfügt haben…

Selbstverständlich verstanden damals alle Mozarts Anspielungen auf Salieris La cifra. Und auch den musikalischen Witz, daß Fiordiligi zwar von »scoglio« (»Felsen«) singt, Mozart die Singstimme aber andauernd durch das passaggio schickt, ehe sie — endlich! — auf »tem-pe-sta« (»Sturm«) am hohen ›b‹ einen Ruhepunkt findet. Ein Sturm ist eben viel verläßlicher als ein Felsen; — welche Ironie!

Während also Fiordiligi nach Da Pontes Text standhaft erscheint, läßt uns Mozart in der Musik wissen, daß es damit nicht weit her ist.

V.
Dies hörbar, dies erfahrbar zu machen: Es ist die Aufgabe des Dirigenten in Zusammenarbeit mit seinen Sängern. Nichts davon findet sich in Maestro Nézet-Séguins Ansichten. Seiner Meinung nach gibt es da diese falsche Idee von vor 30 oder 40 Jahren, daß alles mit demselben Volumen zu singen sei, ebenmäßig über alle Register hinweg. Mozart, so Nézet-Séguin weiter, habe »Come scoglio« im »schwachen« Register (»weak register«) komponiert. Aber heutzutage sänge man »Come scoglio« stark … und das sei nicht, was Mozart im Sinn hatte. Wollte man wie ein Felsen sprechen, so Nézet-Séguin weiter, man hätte die Phrase »Come scoglio« nach oben zu singen; — sehr hoch. (Nézet-Séguin demonstrierte dies auch). Aber das habe Mozart nicht geschrieben.

Doch was sagen große Sängerinnen zu »Come scoglio«? Maria Callas zum Beispiel? »Diese Musik muß sehr stark mit der Stimme betont werden, vor allem mit der Bruststimme. Ohne gute tiefe Noten, richtig plaziert, fällt der Boden der Arie weg.«2

VI.
Das wirft, nicht zuletzt, weil Nézet-Séguin Così fan tutte erst vor sechs Jahren einspielte, eine Reihe von Fragen auf: Müßte ein Dirigent, der dieses Werk aufführt, nicht über die oben beschriebenen Dinge Bescheid wissen? Zählen eine solches Eindringen in die Partie, die Beschäftigung mit dem Gegenstand, nicht zu den Aufgaben jedes Sängers, jeden Dirigenten? Und: Wäre dies nicht vor einer Meisterklasse aufzufrischen?

Wen wundert’s, daß Miah Persson in der von Nézet-Séguin geleiteten Aufnahme als Fiordiligi in »Come scoglio« jegliche Aktivierung des Brustregisters schuldig bleibt? Gerade so, als hätte es »La Ferrarese« und die Berichte aus Mozarts letzten Jahren nie gegeben…

Bei Persson sind selbst auf der freigegebenen Einspielung mehrere Distonationen in der Tiefe nicht zu überhören. Ihre Stimme klingt flach. Ausdruckslos. Uninteressant. Ohne Kern. Und ab dem mittleren ›f‹ (›f2‹) scharf, weil Persson gegen einen sich schließenden Kehlkopf ansingt. Man höre sich zum Vergleich Eleanor Steber oder Elisabeth Grümmer an: Wie aufregend klingt dieses »Ariettchen« auf einmal!

VII.
Zurück zum Musikdirektor der Metropolitan Opera und seiner Demonstration falschen Verständnisses von Operngesang: Daß ein tiefes ›as‹ für einen Sopran ebenso zu den »money notes« zählt, mindestens genauso schwer umzusetzen ist wie technisch richtig gesungene Spitzentöne, steht außer Frage. Doch wie kann man bei sechs Registerwechseln in 14 Takten behaupten, das Brustregister wäre zurecht das »schwache« Register eines Soprans? Auf welcher Basis gelangt Nézet-Séguin zur Ansicht, die ebenmäßige Tongebung über den gesamten Stimmverlauf wäre eine falsche Idee von Sängern von vor 30 oder 40 Jahren? Hörte Nézet-Séguin niemals Aufnahmen großer Sänger der Vergangenheit?

Man sollte meinen, daß Mozart die komponierten tiefen Noten auch gesungen haben wollte. Denn warum hätte er sie sonst notiert?

Every soprano in this hall needs their low notes.

Maria Callas (1923 – 1977)

Nochmals Maria Callas zum Thema »Bruststimme«: »Es ist ganz falsch, wenn gesagt wird, man benötige die tiefen Noten weniger als die hohen Noten. Es ist falsch. Im bel canto muß man die Tiefe haben, das passaggio und die Spitzentöne. Das ist es, was man bel canto nennt. Es ist eine Schule, die einzige Art zu singen. Es ist die Art, wie Lilly Lehmann, die Deutsche, Pasta, die alte Malibran gesungen haben. Sie verfügten über die Brusttöne. — Jeder Sopran in diesem Saal benötigt seine tiefen Töne. Haben Sie keine Angst davor, tiefe Töne zu haben. Im Gegenteil: Sie müssen.«3

VIII.
Das Erschreckende daran ist nicht, daß Yannick Nézet-Séguin eine — fachlich falsche — Meinung vertritt. Das Erschreckende ist, daß dieser Mann, der so wenig von Operngesang zu verstehen scheint, das Amt des musikalischen Leiters der Metropolitan Opera in New York bekleidet. Und in dieser Position zuständig ist für die Sänger-Engagements.

Das Erschreckende ist weiterhin, daß sich diese Unwissenheit längst schon epidemisch auch auf die großen Opernhäuser ausgebreitet hat. Und daß Grund zur Befürchtung besteht, daß auf Grund dieses Unwissens jene Sänger ihrer Zukunft beraubt werden, welche Zeit, Geld und Energie darauf verwenden, ihre Stimme über den gesamten Umfang gleich gut auszubilden.

Solche Sänger gibt es: immer noch — und schon wieder. Doch ihre Stimmen werden von »Fachleuten«, die längst keine mehr sind, als »brüllend«, »vulgär« und »laut« abgelehnt. Und die Engagements erhalten die gutaussehenden, schlanken und stimmschwachen »Diwan-Püppchen«, welche zum Teil nicht einmal mehr trotz Einsatzes der auf vielen Opernbühnen versteckten Mikrophone zu vernehmen, geschweige denn zu verstehen sind.

IX.
Es ist an der Zeit, daß in der Oper tätige Dirigenten wieder mehr Zeit damit verbringen, gute von schlechter Gesangstechnik unterscheiden zu lernen. Ihr Handeln danach auszurichten. Ihre Besetzungen danach auszusuchen.

Und es ist ebenso an der Zeit, daß das Publikum nicht länger in Unkenntnis mediokre Leistungen bejubelt oder, weil die Intendanten es wünschen, mit seinem Urteil bis zum Schluß­applaus wartet. — Die verantwortlichen Damen und Herren wollen in ihren Häusern keine Mißfallenskundgebungen während der Vorstellungen hören? Ich weiß ihnen schon die rechte Antwort: Engagiert Dirigenten, die etwas von Stimmen verstehen. Und Sänger, die technisch richtig singen können.

P.S.: Conrad L. Osborne, Autor von »Opera as Opera«, kündigte an, sich am 11. Oktober 2019 auf seinem Blog ebenfalls zu Yannick Nézet-Séguin und der Problematik zu äußern: »The tone is impolite, but the questions being raised are valid, and have disturbing potential implications.«

  1. Als passaggio bezeichnet man den Übergang zwischen der Bruststimme und der Kopfstimme. Die früher vor allem von italienischen Gesangspädagogen verwendeten Bezeichnungen »Bruststimme« oder »tiefes Register« (voce di petto) und »Kopfstimme« oder »oberes Register« (voce di testa) sind insofern irreführend, als der Ton im Kehlkopf (lat.: Larynx) erzeugt und die Tonhöhe im Rachenraum (lat.: Pharynx) variiert wird. Außerdem ist es Ziel des klassischen Gesanges, diese beiden »Stimmfamilien« so un­merk­lich wie möglich miteinander zu verbinden. Die Bezeichnungen voce di petto und voce di testa beziehen sich also auf die überwiegend schwingenden Resonanzräume des Körpers.

    Das passaggio (in früheren Zeiten auch voce di gola genannt) liegt übrigens für alle Stimmlagen, gleich ob männlich oder weiblich, im Bereich von ›e1‹ bis ›fis1‹. Dieser Übergang erfolgt nicht plötzlich, son­dern hängt von mehreren Faktoren ab: Lautstärke (lauter: mehr Brustanteil, leiser: mehr Kopfanteil), Vokal (offene Vokale wie »u«: mehr Kopfanteil, enge Vokale wie »i«: mehr Brustanteil), Richtung (von oben nach unten oder umgekehrt) sowie jenem Effekt, welchen ein Sänger erzielen will. Der Übergang erfolgt vornehmlich im Kehlkopf durch die muskuläre Koordination der Spannung und der Masse der Stimmlippen, und nicht in den Resonanzräumen darüber oder darunter.
  2. »This music must be well underlined with your voice, especially with your chest voice. Without good low notes, properly placed, the bottom of the aria will fall out.« Aus: »Callas at Juilliard: ›The Master Classes‹ « (aufgezeichnet von John Ardoin. Amadeus Press, Portland, Oregon; ISBN 978-1574670424, S. 18f.
  3. Maria Callas zum Thema bel canto im Rahmen einer ihrer Meisterklassen an der Juilliard School in New York: »It is very wrong when they say you don’t have your low notes more than your high notes. It is wrong. In the bel canto you have to have the chest notes, the passaggio, and the top notes. It is what they call bel canto. It is a school, the only way to sing. The way Lilly Lehmann, the German, Pasta, the old Malibran used to sing. They had chest notes. — Every soprano in this hall needs their low notes. Don’t be afraid of having your low notes. On the contrary: you must.«

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