Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Die Oper — Kritische Zeit für eine Kunstform? (II)

Von Thomas Prochazka

Der zweite Teil der Serie widmet sich der vokalen Bestandsaufnahme des heutigen Opernbetriebes. Daß es darum nicht zum Besten bestellt ist, machen öffentliche Wortmeldungen von Christa Ludwig oder Bernd Weikl ebenso deutlich wie privatim getanene Äußerungen aktiver Sänger. Letztere äußerten auch den Wunsch, dieses Thema öffentlich zur Diskussion zu stellen. Ecco.

II.
Im Zusammenhang mit den Stimmen in der Oper ist es vielleicht interessant, sich jene Anforderungen an Sänger ins Gedächtnis zu rufen, welche Richard Wagner, so oft als Antipode der italienischen Oper bezeichnet, um die Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte:

  • die Schönheit des Tons,
  • das legato (der bruchlose Übergang von einem Ton zum nächsten),
  • das portamento als Grundlage für die Bindung von Intervallen mit leichtem crescendo (lauter werden) in aufsteigender und decrescendo (leiser werden) in absteigender Linie,
  • das messa di voce (die Fähigkeit, die Stimme bei Wahrung der resonatorischen Fähigkeiten an- und abschwellen zu lassen) und schließlich
  • die Agilität bei der Ausführung von Trillern, Skalen, gruppetti (Doppelschlägen) und Vorschlägen1

III.
Singen ist eine physisch fordernde Tätigkeit des ganzen Körpers — nicht nur der zwei, fälsch­licherweise oft als »Stimmbänder« bezeichneten Stimmlippen. Die mechanische Fähigkeit zur Hervor­bringung eines frei fließenden Tones erfordern richtige Atmung (Bauch- und Rippenmuskelatmung), die Beherrschung des Larynx (Kehlkopf) — wo der Ton erzeugt wird —, des Pharynx (Rachen) — wo der Ton verstärkt wird —, die Stütze des Tones sowie die Ent­spannung jener Muskelpartien, welche den Ton beeinflussen: Unterkiefer, Zunge und Hals.

Sänger bedürfen also einer guten, kräftigen Konstitution — welche bei den »Models«, welche dem Publikum heute gerne als »Nachwuchs-Stars« angepriesen werden, selten gegeben ist.

IV.

»Mit geschlossenem Mund können ’S nicht singen«, meinte Bernd Weikl einmal. Zu dumm nur, daß richtig geöffnete Münder in unserer von DVDs und (Live-)Streams geprägten Opernwelt so unchar­mant aussehen. Die Folgen: Säuseln anstatt Singen einerseits; übertriebene Artikulation andererseits.

Glaubt man — allerdings nur hinter vorgehaltener Hand getanenen — Aussagen diverser Sänger, sind der Einsatz von micro ports und Raummikrophonen weit mehr verbreitet als gemeinhin angenommen. Wann, bei welchen Sängern und in welchem Umfang diese technischen Möglichkeiten zum Einsatz kommen, gilt als eines der am besten gehüteten Geheimnisse der einzelnen Opernhäuser. Und selbstverständlich passiert dies ohne Wissen des Publikums.

Zwar vermag die Verstärkung des Tons gesangstechnische Mängel nicht zu cachieren, doch fällt ein auffälliges Kriterium zur Beurteilung eines Sängers weg: jenes der mangelnden Stimmprojektion.

Mit klassischem Operngesang hat die elektronische Verstärkung einer Stimme nichts mehr zu tun.

Sieht man sexy und lasziv aus, wenn man als Sänger-Sternchen die Töne überartikuliert, mit zu weit offenem Mund singt? »Kaut«, wie diese Unart unter Sängern auch genannt wird? Unzählige Videos auf Youtube legen es nahe. (Man mache die Probe auf’s Exempel und sehe sich die Videos ohne Ton an.) Allerdings: Mit weit aufgerissenem Mund ist kein Vokalausgleich mehr möglich, der Stimmsitz wechselt, die Töne geraten zu verschieden. Die Konsequenz: fehlendes legato.

V.
Die Umwandlung der Konservatorien in Universitäten sowie die Globalisierung des »Sänger­marktes« (welch häßliches, doch zutreffendes Wort!) führten zu einem weltweiten Überangebot an Stimmen. Obwohl z.B. die Musikuniversität Wien pro Jahr nur 20 aus über 300 Bewerbern aufnimmt, schließen mehr das Studium ab, als die Opernhäuser aufzunehmen gesonnen sind.

Außerdem wurde, glaubt man den Aussagen arrivierter Sänger, die Ausbildung schlechter: »Jene, die am Markt nicht bestehen, werden dann Lehrer an den Universitäten!« … Pointiert, diese Aussage; — aber falsch?

Definiert man Operngesang als akustisch ohne Hilfsmittel entstehende Töne, welche frei schwingend ein Orchester zu übertönen vermögen und gleichzeitig farbenreich sind, dann ist die Sänger­aus­bildung heute schlecht.

Ein aktiver Sänger zur aktuellen Lage der Ausbildung

Man besuche Meisterklassen (oder lasse sie sich via Youtube ins Haus liefern): In fast jeder wird man auf Situationen stoßen, in welchen der hoffungsfrohe Nachwuchs die Frage, worum es in einer Arie, einem Lied denn gehe, in welcher psychischen Verfassung sich der dazustellende Charakter befinde, mit Schweigen beantwortet. Da verbietet sich die Nachfrage nach dem Inhalt einzelner Textzeilen von selbst… Noch schlimmer freilich, wenn es sich um Sänger handelt, welche bereits in internationalen Häusern unter Vertrag sind. Denn bilden das Ver­ständnis, die Beschäftigung mit einer Partie nicht das Fundament jeder musikalischen Gestaltung? Und wieso waren diese Aspekte nicht Thema der Vorbereitung?

VI.
Woran wird in öffentlichen Meisterklassen (zu welchen man durchaus ein gespanntes Verhältnis haben darf) zumeist gearbeitet? Am legato. Und an der richtigen Atemtechnik (welche — erraten! — wiederum die Kunst des legato zum Ziel hat).

Erfährt man dann, daß der Sänger an besagtem Stück bereits seit einem halben Jahr oder länger gearbeitet hat, stellt sich die Frage, wieso nicht schon längst an diesen Fertigkeiten gefeilt wurde. Hören Gesangslehrer solche Dinge heute nicht mehr? Legen sie keinen Wert auf diese — wie uns Richard Wagner wissen ließ — grundlegende Anforderungen an einen Sänger?

VII.
Oft kann man auch lesen, ein Sänger verfüge über eine »kleine Stimme«. In der Regel bedeutet das, daß diese »kleine Stimme« nicht »trägt«, kein Volumen zu entwickeln vermag. Wäre es allerdings nicht richtiger, anstelle dessen von gut- und schlecht ausgebildeten Stimmen zu sprechen? Werden da nicht schon wieder stimmtechnische Mängel zu entschuldigen versucht?

VIII.
Die Kunst des legato erfordert eine andere Art des Singens, als die meisten Regisseure heute in ihren Arbeiten gesonnen sind zuzulassen: Wer legato singen will, kann nicht gleichzeitig auf der Bühne herumturnen. Viele Mitglieder des Feuilletons jedoch bezeichnen die Art des ruhigen, auf die Tonproduktion fokussierten Tuns als »Rampensingen«. Und den Anhängern dessen, was man landläufig als »(deutsches) Regie-Theater« bezeichnet, ist das ein Dorn im Auge. (Davon zu späterer Zeit mehr.)

Gut zu singen bedeutet, möglichst wenig Luft für einen gut sitzenden, klaren Ton zu verwenden. Und gerade einmal soviel Luft einzuatmen, als man für die nächste Phrase benötigt. Thomas Hampson bemerkte, als Faustregel könne gelten, daß zu tiefes Singen eine Angelegenheit zu schwacher Muskulatur sei, während zu hohes Singen durch zuviel Luft bei der Tonproduktion hervorgerufen werde. Erst die Balance ermöglicht das scheinbar »unendliche« Fließen des Atems, welches — um nur ein Beispiel zu nennen — Piero Cappuccilli so meisterhaft beherrschte.

IX.
Ein weiterer Indikator einer gut ausgebildeten Stimme besteht in der Fähigkeit, Spitzentöne »abdecken« zu können (italienisch: coperto). Luciano Pavarotti demonstrierte diese Fertigkeit einmal im Rahmen einer Meisterklasse. Ohne coperto verlieren Spitzentöne oft den Fokus. Sie geraten schrill und drängen sich in den Vordergrund, anstatt organisch eingebettet zu erklingen. Trockener Kommentar einer Sängerin zum Thema »coperto«: »Ich fürchte, die Mehrzahl der Sänger weiß nicht einmal, was der Ausdruck bedeutet!«

X.
Irgendwann gegen Ende des Studiums beginnen für junge Sänger die Zeiten der Gesangs­wettbewerbe. Früher, so die Erinnerung Aktiver, sang man da Ausschnitte aus Oratorien, arie antiche oder leichtes Repertoire, die Lehrer waren vor Ort und unterstützten. Die Gewinner erhielten neben einer kleinen »munifizienten Gratifikation« die Gelegenheit, sich an einem mittleren Haus in einer mittleren Rolle zu präsentieren. Die Jurys dieser Wettbewerbe bestanden oftmals aus älteren oder ehemaligen Sängern.

Heute sitzen Intendanten oder Casting-Direktoren der großen Häuser in den Jurys und erledigen so zeitsparend die Suche nach neuen Ensemble-Mitgliedern. Und oft, so der Eindruck, entscheidet die physische Erscheinung der Teilnehmer über den Erfolg im Wettbewerb, über Engagement und Nicht-Engagement; — nicht die stimmliche Leistung.

Anstatt die Jungen auf die so wichtigen Lehr- und Wanderjahre durch die Provinz zu schicken, werden sie von den Intendanten vom Fleck weg in die Ensembles der großen Häuser engagiert. Dort werden ihnen — nicht zuletzt auf Grund immer knapper werdender Budgets — nach einem oder zwei Jahren Partien wie Angelina, Cherubino, Despina, Musetta, Susanna, Zerlina oder Dandini übertragen. »Früher«, so eine Sängerin im trauten Gespräch, »besetzte man eine Susanna mit einem Gast. Heutzutage besetzt man sie zumeist aus dem Haus. Diese Partie hat ihre Wichtigkeit eingebüßt. Sie ist halt unspektakulär. Dabei zählt sie zu den anspruchsvollsten und längsten des Repertoires!«

XI.
Wohlmeinende oder mit den Intendanten (oder den Sängern) befreundete Kritiker publizieren dann Eloge um Eloge. Als kritischer Beobachter des Betriebes gelangt man durch die Jahre zum Schluß, die Feuilletonisten — so sie sich überhaupt mit der Besprechung von Stimmen aufhalten — glauben, was sie schreiben. Und ein Publikum, welches schon lange keine richtig sitzende und durch alle Register gleichmäßig und gut geführte Stimme mehr hören durfte, applaudiert. Applaudiert — oftmals in Unkenntnis der Partitur oder der gesangstechnischen Erfor­dernisse des Gebotenen — Leistungen, welche bei genauer Analyse den von den Komponisten niedergeschriebenen Notentexten in keiner Weise gerecht werden.

If you can’t sing it, doing it isn’t gonna help.

Thomas Hampson (16 Feber 2015, Manhattan School of Music)

Dafür liest der interessierte Opernfreund dann von tollen »Singschauspielern«, welche selbst die dümmsten Anweisungen der Spielvögte noch ausführen. Aber, Hand auf‘s Herz: Ist der Begriff »Singschauspieler« nicht das Synonym für das Unvermögen eines Opernsängers, seiner Rolle musikalisch gerecht zu werden, sie mit den Mitteln des Gesanges zu gestalten? Heute zeichnet das Feuilleton den »normalen Sänger« als minderwertigen Rampensteher und stellt den »Singschauspieler« als Darsteller-Genie auf das Podest. Aber wieviele Stehsänger bevölkern denn die Opernbühnen? Oder, anders gefragt: Wieviele Regisseure des »Regie-Theaters« voll­bringen denn Wunder der Personenführung?

XII.
Nach ein paar Jahren sind die Folgen dauernder stimmlicher Überforderung auf Grund mangelnden technischen Könnens auch für Laien nicht mehr zu überhören. Das tägliche Forcieren — oft schlechten Dirigenten und zu lauten Orchestern geschuldet — haben ein über­fordertes Sängerinstrument zur Folge: schwerfällig in der Attacke, mit einsetzendem, langsamen Vibrato und dem Verlust an Höhe, Frische und Flexibilität. … Zeit also für den ersten »Fach­wechsel« — im Alter von 35 Jahren!

»Es tut mir leid«, so ein Sänger, »so vollzieht sich kein Fachwechsel! Ein Fachwechsel muß die Einzigartigkeit einer Stimme erhalten. Sie wird stärker und stabiler; — aber doch nicht ihrer Schönheit beraubt?« Denn in Wahrheit sind solche »Fachwechsel« Eingeständnisse jahrelangen Raubbaus an der Stimme.

Maria Callas gab ihren Schülern die Botschaft mit, ein Sänger müsse »alles können«: Er bedürfe einer guten Tiefe, einer guten Mittellage und einer guten Höhe. Die Stimme müsse flexibel sein und beweglich, müsse den Klang färben können; — egal ob Mann oder Frau. Alle diese Fertig­keiten, so ein Sänger, kommen mit der Erfahrung. Und die »Farbe« sei eine Sache der Energieaufteilung.

XIII.
So aber werden aus den »Nachwuchs-Stars« von gestern die Sternschnuppen von heute. Ver­­gleicht man die Besetzungs- und Ensemble-Listen der verschiedenen Häuser durch die Jahre, ist gar kein anderer Schluß möglich. Doch kaum sind die Sternschnuppen verglüht, engagieren die Intendanten deren Nachfolger. Und präsentieren diese selbstverständlich wieder als »Nachwuchs-Stars«…

XIV.
Es ist an der Zeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen und Mängel wieder zu benennen; — ungeachtet von Reputation und Status der Ausführenden.
Denn wer dergleichen kritisch billigt, ist ein Niveau-Schänder.

  1. Zitiert nach: Jürgen Kesting: »Die großen Sänger«, Bärenreiter-Verlag Karl Vötteler GbmH & Co. KG, Kassel, 2010, S. 135.

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