»Giselle«, 2. Akt: Rikako Shibamoto, Elena Bottaro und das corps de ballet © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

»Giselle«, 2. Akt: Rikako Shibamoto, Elena Bottaro und das corps de ballet

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Adolphe Adam: »Giselle«

Wiener Staatsballett

Von Thomas Prochazka

Giselle — eine Geschichte, zwei Varianten.
Das Staatsballett begann die heurige Saison mit diesem phantastischen Ballett um Feenwesen. Und beendet diese mehr oder weniger auch damit, ist es doch das letzte abendfüllende Handlungsballett in dieser Spielzeit.

Im Oktober 2017 debütierte Ioanna Avraam in der Titelpartie. Und überzeugte damals durch die Intensität der Interpretation und mit der ihr eigenen Klarheit der Bewegungen. Die Erinnerung an diesen Abend bewog mich, auch in dieser Serie ihre Vorstellung (am 4. Juni) zu besuchen und nicht nur, wie viele andere, den Abend der Gäste. Und ich wurde belohnt: mit einer ergreifenden, berührenden Giselle.

Mit ihrem Partner Denys Cherevychko als Herzog Albrecht entwickelte Avraam die ganze Tragik der unerfüllten, enttäuschten Liebe. In nur einem Akt wandelt sie sich vom jungen Mädchen, in dem die Liebe erwacht, zur jungen Frau, die an gebrochenem Herzen stirbt. Die Dramatik des zweiten Aktes ist eine Herausforderung, die Avraam souverän meistert. Es ist erst die zweite Vorstellung, die sie als Giselle im Haus am Ring tanzt. Und doch wirkt sie sicher im Spiel; — und vor allem in der Technik. Selten gibt es eine Ballerina, die so leise ist, was den Eindruck des federleichten, zerbrechlichen Mädchens noch verstärkt. Zur akkuraten Fuß- und Beinarbeit gesellen sich wunderschöne Arme und Hände, es gibt keine Brüche in den Handgelenken, keine »Flügerln«. Dazu eine natürliche Anmut im Epaulement und in der Kopfhaltung.

»Giselle«, 2. Akt: Ioanna Avraam (Giselle) und Denys Cherevychko (Herzog Albrecht) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

»Giselle«, 2. Akt: Ioanna Avraam (Giselle) und Denys Cherevychko (Herzog Albrecht)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Denys Cherevychko war der glaubhafte Albrecht, der sich für einen Moment seiner gesellschaftlichen Zwänge entledigt und dem fröhlichen Treiben der jungen Bauern und Winzer anschließt. Sein höfisches Leben holt ihn allerdings schnell ein. Zu spät erkennt er die ehrliche Liebe Giselles. Exakt und kraftvoll tanzte Cherevychko den jungen Mann, der um das Mädchen wirbt, wirkt im Zusammenspiel mit seiner Verlobten nahezu verkrampft … um dann im zweiten Akt so schwärmerisch zu sein, wie es das romantische Ballett verlangt. Wie Avraam durchlebt auch er die Geschichte. Beide tanzen nicht nur die Choreographie, sondern sind Giselle und Albrecht. (Ein kurzes Straucheln im Solo ist ärgerlich, tut aber dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch.)

Wie war es dann zwei Abende später mit dem gastierenden Paar Olga Smirnova und Semyon Chudin? War es besser? Oder nur anders?

Es war — anders. Smirnova ist eine zarte Giselle, mit wunderbaren Füßen und sehr exakter Beinarbeit. Wären doch nur die Arme und Hände schöner! Da sieht es leider immer wieder so aus, als sei eine Marionette an Ellenbogen und Handgelenken aufgehängt. Darstellerisch im ersten Akt sehr einprägsam, bleibt sie denn doch mehr gastierender Star, als daß sie ihre Rolle lebt. Dies fällt vor allem im zweiten Akt auf, in dem sie ihr »Auftrittssolo« fast zu brillant tanzt. Etwas mehr Seele wäre schön gewesen.

Während sie den starken Eindruck im ersten Akt hinterlässt, steigert sich Semyon Chudin im zweiten. Zuerst wirkt er fast fremd. Ist es das unbekannte Haus, das Ensemble…? Richtig wohl scheint er sich erst im zweiten Akt zu fühlen: Da zeigt er, daß er über eine hervorragende Technik und Schönheit der Linie verfügt. Sein Solo mit den berühmten entrechat six war beeindruckend.  

Die weiteren Rollen wurden in wechselnden Besetzungen getanzt. Als Hilarion waren Alexandru Tcacenco (mit Rollen-Debut am 4. Juni) beziehungsweise Eno Peci aufgeboten. Die Partie gibt leider so wenig her, daß kaum etwas über die tänzerische Leistung gesagt werden kann. Sauber tanzten beide. Allerdings verfügt Peci über ein höheres Maß an Präsenz.

»Giselle«, 2. Akt: Olga Smirnova (Giselle) und Semyon Chudin (Herzog Albrecht) Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

»Giselle«, 2. Akt: Olga Smirnova (Giselle) und Semyon Chudin (Herzog Albrecht)

Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Oxana Kiyanenko (4. Juni) als Myrtha schlug sich achtbar. Von Kiyoka Hashimoto hätte ich mir mehr erwartet. Nach den letzten Leistungen, die sie zeigte, habe ich mit einer achtungs­gebietenden Königin gerechnet. Leider blieb sie ausdruckslos, nahezu leer…

Positiv überraschte hingegen Rikako Shibamoto bei ihrem Debut als Bauernmädchen. Der Adrenalinschub muß gewaltig gewesen sein: Die ersten Schritte wirkten noch nervös, dann aber tanzte sie frei und voller Lebenslust. Ihr Partner Leonardo Basílio bot eine angemessene Leistung.

Am 6. Juni waren Natascha Mair und Scott McKenzie als Bauernpaar aufgeboten. Mair, wie immer mit sehr flinken Füßen, spritzig und temperamentvoll; — aber auch immer wieder mit der Eigenheit, sich aus der Achse zu reißen, weil die Kopfbewegungen nicht achtsam genug sind. Wenn sie abstrakte Ballette tanzt, passiert das weniger. Es scheint, als versuche sie, mit der Unruhe des Kopfes die Handlung zu gestalten, will mal jugendlich niedlich erscheinen, so wie hier, mal fast zickig, wie in La Fille mal gardée. — Das ist schade, hätte sie doch allein durch Begabung und erarbeitetes Können die besten Voraussetzungen, eine Ballerina zu werden…

McKenzie beeindruckte wiederum durch stupende Sprungkraft und schnelle Füße.

Ist bei den beiden Solo-Wilis, Sveva Gargiulo und Anita Manolova, durchaus noch Luft nach oben, so überzeugte das Corps de ballet als Ganzes durchaus. Besonders die Leistung der Damen im zweiten Akt sei positiv hervorgehoben. Denkt man an die Serie im Juni 2011, liegen da Welten dazwischen. Die Compagnie hat sich in diesen Jahren einen ersten Rang in der Welt des Balletts ertanzt.

Unter der bewährten Stabführung Paul Connellys spielte das Staatsopernorchester mit Volkhard Steude am Konzertmeisterpult die wunderbaren Melodien Adolphe Adams. Allein dies eine Freude.

Und das Fazit? Beide Vorstellungen waren sehr gut, die Solopaare ebenbürtig. Kein Paar war besser oder schlechter als das andere. Die Jubelrufe hätten Avraam und Cherevychko genauso verdient wie das gastierende Paar Smirnova und Chudin. Schade, daß sich die Ballettschüler nicht einfanden, auch die Solisten des Hauses zu bejubeln…

Getanzt wurde an beiden Abenden auf hohem Niveau. Insgesamt stimmiger, ja berührender, war der Abend mit Avraam und Cherevychko. 

Bereits Mitte September 2018 lädt das Wiener Staatsballett zu einer weiteren Serie von Elena Tschernischovas Giselle ein.

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