Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt) © Thomas Prochazka

Deckengemälde von Marc Chagall im Pariser Palais Garnier (Ausschnitt)

© Thomas Prochazka

Richard Wagner: » Tannhäuser «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Diese Produktion: ein szenisches Mißverständnis erster Güte; in weiten Teilen ein gesanglicher Offenbarungseid. (Das ist es.)

II.
Ich will’s erklären. Lydia Steier siedelte die drei Akte der großen romantischen Oper in drei Zeitaltern an: den ersten in einem Art Nouveau-Venusberg der 1910-er Jahre mit Personal aus unseren Tagen; den zweiten in einem Albert Speer nachempfundenen Bau (so las man’s in der großzügig gewährten Vorhofberichterstattung); den dritten in einer dystopischen Zukunft.

III.
In der Venusberg-Grotte übten sich alle drei Geschlechter zu den Klängen des Bacchanals in Musikakrobatik. Vier Trapezkünstlerinnen ließen aus übergroßen Busen Glitzerflitter herniederregnen. Man sah viel nackte Haut, ein wenig Leder und Stoff; choreographierte Gruppentänze à la The Chorus Line und Saturday Night Fever (Leiterin des Unternehmens » Choreographie & Regiemitarbeit «: Tabatha McFayden). Herren mit Bischofsmützen und entblößter Brust perpetuierten die Stereotype, gegen welche anzukämpfen vorgeblich die Aufgabe unserer Zeit sei. Die Ernsthaftigkeit des Unterfangens wäre daran zu messen gewesen, jenen Mitgliedern der Gesellschaft auch Zugang zu gewähren zu des Landgrafen Sängerkrieg: 1938; in Deutschland. So aber ... — Man sieht solches, kostümtechnisch in unsere Zeit verlegt, und fragt sich, was davon eine Pilgerreise nach Rom als Sühne heischte.

IV.
Die Liebesgöttin Venus schwebte, in einem Halbmond sitzend, aus dem Schnürboden herab. Nein, wie originell!, denkt man. Und: Nun müsse man für solchen Effekt nicht extra ein Billett für eine Zauberflöten-Aufführung erwerben. Obwohl: In der aktuellen Wiener Produktion wird solcherart ja Sarastro ins Geschehen eingeführt; angetan mit dem Kostüm und der Perücke der sternflammenden Königin; — während diese im Schaukasten hereingefahren wird. Also doch ein Zauberflöten-Billett …? Ich schweife ab.

Venus also: Angetan mit einem Gesteck von Marabufedern am Kopf und einer an der Taille befestigten ebensolchen Schleppe über dem kurzen, silberglänzenden Kostüm. Alfred Mayerhofer leistete ganze Arbeit (wieder einmal). Seine Kostümkreationen sind, den Vorgaben entsprechend, geschmackvoll. Einzig Tannhäuser begegnet uns in weißem Hemd und schwarzer Hose. (Die Damen sind eben immer besser gekleidet als jene, welche sie begleiten.)

Leider sang Ekaterina Gubanova als Venus nicht im geringsten so gut wie sie aussah. Ihr Instrument kündete von der ersten Silbe an von Überforderung. Länger zu haltenden Tönen eignete ein ausgeprägtes und störendes, langsames Vibrato. Die Höhen hörten sich ungestützt an, die Tiefen arm an Volumen. Jeder Ton klang nach harter Arbeit. Als wäre dies nicht schon erschwerend genug, entkleidete die Regisseuse die Göttin ihrer Macht. Inszenierte Tannhäusers Sinnen nach Ortsveränderung als — von seiner Seite — durchaus handfesten Streit eines ehemaligen Paares. (Mehr Lust denn Liebe.) Doch was interessieren uns die Beziehungsprobleme beliebiger Leute?

Clay Hilley heißt der Haus-Debutant, der sich als Tannhäuser nach heutiger Wagner-Manier durch die Vorstellung brüllte. Ein-, zweimal stolperte er bei Spitzentönen bedenklich, sonst » sang « er Töne anstatt zu phrasieren. — Legato? Fehlanzeige. Hilleys Stimme klang immer belegt, unrein im Ton, und farbenarm. Doch ja, er » überlebte « den Abend, wenn auch so manches Phrasenende (nicht nur) in der » Rom-Erzählung « mehr erahnt werden mußte als es zu hören war. Die Partie des Tannhäuser gilt mit ihren Herausforderungen vielen Tenören als die schwierigste. Von Dir töne Lob an bewegt sich die Stimme oftmals um das passaggio, erfordert — der Deklamation wegen — sauberes Singen auf Linie in bel canto-Technik, mit komprimiertem Ton, doch ohne daß jede Phrase gepreßt klingt. Und: Muß die Forderung als unbescheiden gelten, wonach ein piano als piano, ein forte als forte und ein mezza voce als mezza voce hör- und erkennbar sein sollte?

V.
Lydia Steier verfiel auf die sublime Idee, den jungen Hirten nach der Verwandlung zum schönen Thal zu verdoppeln. Nun ja, Verwandlung …
(Im Lauf der Begebenheiten wird das alles klar werden.)

Von links fährt ein Clown in Anspielung an Tobias Kratzers Bayreuther Inszenierung auf einem Modell eines alten Citroën herein und spielt die Schalmei. Nein, wie originell!, denkt man bei sich. Und: Ach, gäbe es doch Stephen Gould noch, im Vollbesitz seiner Stimme. — Willkommen bei einer neuen Ausgabe der unendlichen Serie » Regisseurs-Theater heute «.

Die Verwandlung: Momme Hinrichs (Bühne und Video) ließ Tannhäuser vermittels einer in Grüntönen schattierten Wand vom Venusberg scheiden. (Allem Anschein nach ist die Bühnentechnik im 21. Jahrhundert zur Erfüllung der vom Komponisten niedergelegten Forderungen noch nicht ausgereift genug.) Daß die Spielvogtin ihren Tannhäuser danach an diese Wand trommeln, an der Klinke einer verschlossenen Tür rütteln läßt: Ach, wie witzig.

Darüber, in einem Ausschnitt der das schöne Thal vorstellenden Wand, Ilia Staple als junger Hirt. Sie schwebte, gewandet wie Ludwig XIV., doch Ton in Ton in hellem Beige, vom Schnürboden und mühte sich hörbar mit ihrer kleinen Partie. Staples Stimme klang anämisch, flach — und ungestützt. Doch diesmal ist sie freizusprechen von jeglicher Schuld. Kein Sänger vermag in solcher Lage ausreichend zu stützen, sodaß ein komprimierter Ton entstünde. Ob wenigstens die Regisseuse weiß, zu welchem Zweck der Sonnenkönig in ihren Tannhäuser geraten mußte?

Ebenso originell: Daß die Mitglieder der Jagdgesellschaft des Landgrafen von Thüringen — es handelt sich (wenig überraschend, weil an jeder Straßenecke anzutreffen) um Minnesänger im 20. Jahrhundert — an dieser » Waldwand « ihr Wasser abschlagen und im » Wald « rauchen. Der zurückgekehrte Tannhäuser wird geknufft und gepufft. (Man weiß ja, wie kindisch Jungens sind.) Nach dem Zauberwort Elisabeth steigt Tannhäuser in verordneter Extase auf den Souffleurkasten und wird — Achtung: Gag-Alarm! — vom Souffleur durch weithin sichtbare Handbewegungen wieder von dort vertrieben. Die Minnesänger swingen zu Ricky Wagners mitreißender Musik. Ein eilig aus der Kulisse herbeigeschaffter Photoapparat auf einem Stativ hält den Moment von Tannhäusers Rückkehr für die Nachwelt fest, und alle bis auf ihn gehen ab. Tannhäuser darf, Theater muß ja immer dekonstruktivistisch und rational gedacht werden, nach dem Hochziehen der » Waldwand « in Richtung der vorbereiteten Bühnenbildteile des zweiten Aktes schreiten.

VI.
Zweiter Akt: anstelle der Halle der Wartburg ein Varieté-Saal mit aufsteigenden Etagen. Nach dem (viel zu frühen) Aufziehen des Vorhanges ist man allerorten mit den Vorbereitungen für das in Aussicht genommene Sängerfest beschäftigt: Tische werden eingedeckt, Stühle gruppiert.

Auftritt Malin Byström als Elisabeth: in einem violetten Kleid, Marke » kleinbürgerliche deutsche Hausfrau «. (Ich ertappte mich bei dem Gedanken, welche Überwindung es Alfred Mayerhofer gekostet haben mag, eine solche Scheußlichkeit zu entwerfen.) Violett: in der römisch-katholischen Kirche die Farbe der Trauer, auch Buße, Demut und Reue. … Die wagnersche Elisabeth entpuppte sich für Byström als keine kleinere Qual als die verdische. Byström klang für die zugewiesene Partie ebenso unterbesetzt wie ihre sinnliche Gegenspielerin. Vom Höhepunkt, der eine » Hallenarie « sein sollte, war wenig zu bemerken. (Auch sorgte die Spielvogtin für dauernde optische Ablenkung vom Gegentand.) Byströms Stimme ward breit geführt und fortwährend abgedunkelt, um sie größer erscheinen zu lassen. Dabei mit zuwenig Substanz in der Tiefe. Sie suchte irgendwie durchzukommen, blieb im finalen Ensemble des zweiten Aktes immer wieder unhörbar. Auch das Gebet im dritten Akt berührte nicht.

VII.
Günther Groissböck hinterließ als Landgraf Hermann den besten Eindruck. Er weiß Phrasen zu bilden, Wagners Text mit Leben zu erfüllen. Zwar schwächelte Groissböck an den Rändern des Stimmumfanges, doch: Der Sänger muß an seiner Technik gearbeitet haben. Nicht kaute er mehr die Töne mit schiefem Unterkiefer, sondern sang mit geraden Bewegungen. Und plötzlich klingt seine Stimme rein, elegant (nicht allzu groß, doch ausreichend für das Haus) — und besser, viel besser als zuletzt. Allein dafür, sich eine schlechte Gewohnheit abzugewöhnen, werde ihm Anerkennung zuteil.

VIII.
Wir erinnern uns: Bei Lydia Steier spielt der zweite Akt im Jahr 1938, der Zeit des Nationalsozialismus. Während Elisabeth und Tannhäuser im Vordergrund ihr Wiedersehen in As-Dur besingen, zeigte die Regisseuse die Minnesänger auf der obersten Etage um einen Tisch gruppiert: im Frack, rauchend und trinkend. Unwillkürlich schob sich das Bild der NS-Schergen vor mein geistiges Auge, wie weiland in Schindlers Liste und Dokumentaraufnahmen aus jener Zeit.

Hervorragend gelungen auch in diesem Akt die Ausstattung für die Damen der Chöre und der Komparserie (die Herren trugen alle Frack): Da stimmten Kostüm, Frisur und Bewegungen. Wie schade nur, daß all dies nichts mit dem zu verhandelnden Gegenstand zu tun hatte. Denn wer sich in in jener finsteren Zeit (© Hilde Spiel) wider die vorgegebene Moral versündigte, pilgerte nicht zwecks Sühne nach Rom, sondern zur Zwangsarbeit und noch Schlimmerem ins Konzentrationslager.

IX.
Mit der Entscheidung der Spielvogtin, die Minnesänger für ihren Wettstreit in mittelalterlichen Gewändern auftreten zu lassen, glitt der Abend vollends ins Belanglose ab. Aus dieser » Kreuzerkömödie « erwächst kein Ernst. Doch in diesem nur keimt Wahrheit. Vergeben und vertan also, und das vor der Zeit.

Daran vermögen auch Martin Gantner als Wolfram von Eschenbach mit seinen Mitstreitern Daniel Jenz (Walther von der Vogelweide), Simon Neal (Biterolf), Lukas Schmidt (Heinrich der Schreiber) und Marcus Pelz (Reinmar von Zweter) nichts mehr zu retten. Nicht nur binden diese Namen das Geschehen an die Zeit um 1200, sie diktieren mit den Schauplätzen Wartburg und Hörselberg auch den Ort der Handlung und damit die Kostüme. Doch niemals geht es bei Kunstwerken aus alter Zeit, sie aus unseren Tagen zu lesen; sondern immer darum, ob und was die verhandelten Themen uns Heutigen zu sagen haben. Nicht die autorielle Verlegung, das Freilegen der noch geltenden Prinzipien wäre die Aufgabe gewesen.

Was also ist das Thema des Tannhäuser? Die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft? Wohl kaum. Denn das hieße, dem Schöpfer des Parzival und seinen Kollegen ihre Künstlerschaft abzuerkennen. Um die Liebe in all ihren Facetten (welche zu beschreiben es Wolframs und Tannhäusers bedarf)? Das schon eher. Stefan Mickisch offerierte eine im ersten Augenblick überraschende Antwort: Es geht um die Erlösung Elisabeths. (Wie auch Margaretes Erlösung das zentrale Thema von Gounods Faust ist.)

X.
Im dritten Akt stellte uns die Spielvogtin eine dystopische Umgebung vor, in der jeder nur mehr für sich allein vor einem Bildschirm sitzt. Das Bildnis der mater dolorosa mutierte zu einer aus Monitoren zusammengesetzten Skulptur, darauf Malin Byström Platz nahm. Warum und weshalb, blieb offen.

Diesmal marschierte der Pilgerchor über die Bühne. Im ersten Akt war man gestanden, während Tannhäuser kurios durch die Reihen gestreift war. Nun tat es Elisabeth auf der Suche nach Tannhäuser. Daß der Chorgesang hinter der Bühne wieder einsetzte, während noch die letzten Pilger stumm von der Bühne stolperten, zählte zu den vielen unergründlichen szenischen Wunderlichkeiten des Abends.

Das » Lied an den Abendstern « des Wolfram von Eschenbach gab Martin Gantner die Gelegenheit, sich kurz vor dem Schluß des Abends noch einmal ins Gedächtnis der Zuhörerschaft zu singen. Gantner nützte seine Chance, obgleich die Stimme auch hier eine gewisse Sprödigkeit behielt. Ein verläßlicher Sänger. (Das gilt, zumal heute, nicht wenig.)

XI.
Philippe Jordan war dem Komponisten ein guter Anwalt. Wir wissen, daß er dazu neigt, an lauteren Stellen zu eilen und an leiseren langsamer zu werden, als es die Partituren vorsehen. Wir wissen, daß seine Lesarten immer die Gefahr mangelnder Klang-Balance zwischen Bühne und Graben bergen. Und wir wissen auch, daß er dazu neigt, den über einen Abend zu spannenden Bogen nicht halten zu können. Auch diesmal klang manches noch unfertig. Rustikal. So schunkelte man mit zuviel Druck durch das Bacchanal, wo noch an Phrasierung und Dynamik zu feilen gewesen wäre. Auch ob die Betonungen des singspielhaften Charakters im Septett des ersten Aktfinales so volksliedhaft klingen müssen, wäre weitere Diskussionen wert. Alles in allem jedoch schien mir diese Arbeit eine der besten des scheidenden Musikdirektors gewesen zu sein.

XII.
Ceterum censeo: Die Spielvogtin fand in Tannhäuser zu keiner grundlegenden Aussage; vergab diese Produktion ebenso wie ihre beiden Salzburger Zauberflöten-Versuche. Die Gesangsleistungen blieben — mit den genannten Ausnahmen — weit hinter dem zurück, was das Institut in Erfüllung des auch vom Gesetzgeber an ihn gestellten Anspruches zu leisten hätte.
In Wien also nicht Neues.

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