Hector Berlioz: »Les Troyens«
Wiener Staatsoper
Von Thomas Prochazka
II.
Selbstverständlich sind auch solche Abende nicht frei von Mängeln. Frei von stimmlichen Unzulänglichkeiten aller Art. Doch gehen mit jenen Vorzüge einher, welche alle Mißstände weit aufwiegen. Wie pulst, wie atmet die Musik an diesem Abend! Wie meisterhaft — dieses so oft mißbrauchte Wort, hier ist es am Platz — erwecken Alain Altinoglu und das Staatsopernorchester Berlioz‘ Partitur zum Leben.
Diese Vielfalt an Klangfarben! Man denke nur an die orientalisch anmutenden Klänge, unterstützt von einem kleinen Damenchor, zum Finale des Balletts im vierten Akt. Oder an Andromaques Szene im ersten, in welcher die Solo-Klarinette an die Stelle der Singstimme tritt. Oder an die Imprécation im fünften, als die Karthager zur Melodie des Trojanischen Marsches die Nachkommen Enées verfluchen. Und im Bühnenhintergrund richtet sich die Büste Hannibals auf. Blutrot auch er...
III.
Es gibt einiges zu schauen an diesem Abend. Vieles nimmt man auch nur atmosphärisch wahr: zum Beispiel die teilweise hervorragend subtile Licht-Regie von Pia Virolainen und Wolfgang Goebbel. Sobald die Trojaner in Karthago landen, verdunkelt sich die Bühne. Das eben noch vorherrschende Licht des Südens wird verdrängt vom Blau Trojas. Glaubt man Virolainen und Goebbel, hat Troja/Rom Karthago bereits zu Ende des dritten Aktes eingenommen.
Ein weiteres Beispiel für David McVicars ausgezeichnete szenische Arbeit: wie subtil sich Enée durch Ascagne (weiterhin unauffällig: Rachel Frenkel) in den Besitz von Didons Ring zu setzen versteht. Anna (mit nicht so starkem Eindruck wie bei der Première: Szilvia Vörös) erhält von Iopas (verläßlich: Paolo Fanale) und Narbal (ruhiger und damit besser klingend: Jongmin Park) Kunde davon. Sie tritt in den aus Laternen und Dienern gebildeten Ring, darin Enée und sie einander umkreisen. Sie ihm mit triumphierendem Blick bedeutend, daß sie weiß; er diesem Blick standhaltend.
IV.
An diesem Abend singt, wie ursprünglich vorgesehen, Anna Caterina Antonacci die Cassandre. Die Partie ist ihre. Man sieht die Jahre der Erfahrung. Man erlebt aber auch, wie Antonacci die Cassandre mit der Stimme gestaltet. (Dies der große Unterschied.) Gewiß, auch Antonacci hat mit der Aktivierung des Brustregisters ihre liebe Not, drückt nach, nimmt das eine oder andere Mal sogar Zuflucht zu gesprochenen Phrasen.1 Allerdings überzeugt sie mit eng geführtem hohen Register, weiß um die richtige Anwendung des coperto. Da klingt kein Spitzenton schrill. Antonacci hinterläßt so, alles in allem, einen denkbar günstigen Eindruck. (Ihre Sicherheit, ihre stimmliche Präsenz helfen auch dem Chorèbe des Adam Plachetka. Er zeigt sich stimmlich wie im Spiel verbessert gegenüber dem Eröffnungsabend.)
V.
Nicht unerwähnt bleiben darf diesmal der Hylas des Benjamin Bruns. Gewiß, die Partie besteht nur aus einer Arie. Aber welche Elegie Bruns darein zu legen versteht… Wie bestechend er phrasiert: Das zählt zu den Höhepunkten des Abends. (Und ich überlege, ob er nicht eine mögliche Besetzung für den Enée wäre.)
VI.
Brandon Jovanovich überzeugt als Enée. (Wiederum.) Wenn er sich mit »Inutiles regrets!« im fünften Akt verabschiedet (es folgt ja »nur« mehr das Duett mit der furienhaft verzweifelten Königin), tut er es mit vollem Einsatz. Scheint emotional involviert. (Man sieht seinen Brustkorb in rascher Tour sich heben und senken während des Applauses.) Singt mit dem Risiko, daß die Spitzentöne (wie am Allerheiligenabend) mißlingen.
(Sie tun’s diesmal nicht.)
VII.
Joyce DiDonato gelingt als Didon ein Wunder. Das Wunder, ein ganzes Haus zu bannen, so intensiv spielt sie mit der Stimme: Nach der großen Szene »Je vais mourir… Adieu, fière cité« — rührt sich keine Hand im Rund. (Selbst nicht als Altinoglu zögert, weiterzugehen.)
Es sind Augenblicke wie jener, die wir als Kostbarkeit bewahren. Und zurecht.
- Wer sich an einer ausgezeichneten Interpretation von Cassandres Arie »Le Grecs ont disparu… Malheureux roi!« sowie Didons Szenen »Nous avons vu finir… Cher Tyriens« aus dem dritten und »Je vais mourir… Adieu, fière cité« aus dem fünften Akt erfreuen will, sei auf die Einspielung von Régine Crespin mit dem Orchestre du Théâtre National de l’Opéra de Paris unter Georges Prêtre hingewiesen. Crespins Einsatz des Brustregisters und die Klarheit ihrer Stimme können als vorbildlich gelten.↵