» Der fliegende Holländer «, 1. Akt: Franz-Josef Selig als Daland und Bryn Terfel als Holländer © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Der fliegende Holländer «, 1. Akt: Franz-Josef Selig als Daland und Bryn Terfel als Holländer

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Richard Wagner:
» Der fliegende Holländer «

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Der letzte Abend vor dem vierten lockdown: Die Lage ist, auf gut Wienerisch, hoffnungslos, aber nicht ernst. Was folgte, war » das Wunder der Wiener Staatsoper «.
(Wann’s laaft, laaft’s.)

II.
Der Direktor erschien vor dem Vorhang. Entschuldigte sich, daß in den letzten Tagen fast täglich eine Änderung zu verkünden gewesen war: Der Anstieg der Infektionen machte auch vor dem Haus nicht halt. Entschuldigte sich, daß es Verwirrung darum gegeben hatte, ob nach der Carmen-Vorstellung zwei Tage zuvor auch Der fliegende Holländer ohne Chor stattfinden werde müssen. Erwähnte die Dankbarkeit der Direktion, daß sich genügend Mitglieder des Staatsopernchors und des Zusatzchors bereiterklärt hätten, aufzutreten. (Starker Applaus.) Denn Der fliegende Holländer sei eine Choroper. Allerdings werde man eine Szene nicht wie vorgesehen spielen können; doch nur Kennern der Inszenierung würde dies auffallen. So öffnete an diesem Abend im dritten Akt nur der Steuermann Rock und Hemd, um einem Mädel Küsse zu rauben; vehement; stürmisch. (Notiz an Christine Mielitz: eine Änderung, die beizubehalten wäre. Wir verstehen’s auch so.)

» Der fliegende Holländer «, 2. Akt: Riccarda Merbeth als Senta © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Der fliegende Holländer «, 2. Akt: Riccarda Merbeth als Senta

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

III.
Diese Inszenierung: Näher am Stoff als Willy Deckers Schöpfung für Paris. Le Vaisseau fantôme: Denn in Paris nennt man die Dinge beim französischen Namen, auch wenn man in der Originalsprache singt. Näher als Dmitri Tcherniakovs Tun sowieso; dem schien es wichtiger, seine Geschichte auf die Bühne zu bringen als Richard Wagners Text und Musik zu erzählen. (Grabschänder.)

Bei Christine Mielitz und Stefan Mayer (Bühnenbild und Kostüme) hingegen: Anklänge ans Meer. Schiffe. Matrosen. Keine Rettungstuchnähaktion (wie in Paris). Keine Gesangsstunde (wie in Bayreuth). Sehr gelungen die Idee, aus dem Bühnenboden zu beleuchten. Den zulaufenden Schiffsrumpf aus dem Hintergrund zu holen: für des Holländers ersten Auftritt ebenso wie für das Liebesduett mit Senta. In rotes Licht getaucht. (Egal.) Durchdacht die Lichtwechsel im dritten Akt, wenn die Mannschaft des Holländerschiffes nach den Aufforderungen der Matrosen und der Mädchen an Land stumm bleibt. Daß Senta sich im Ende mit Benzin übergießt, anstatt von der Klippe zu springen: Wen stört’s, solange die Geschichte erzählt wird? Ich erhebe keine Einwände gegen moderne Regiearbeiten. Nur gegen jene, die das Werk nicht ehren. (Das vierte Gebot des Theaters.)

IV.
Ein mitreißender Abend. Nicht fehlerfrei. Doch darum geht’s nicht. (Geht es nie.) Bertrand de Billys Interpretation rückte das Werk in die Nachbarschaft Webers und Lortzings: Deutsches Singspiel. Spielopernton.

Das Orchester der Wiener Staatsoper: höchster Trumpf des Hauses. (Wieder einmal.) Mir schien, man wollte mit de Billy musizieren. Gibt es Schöneres? Die Ouverture — herrlich! (Auch gemessen an den besten Bayreuther Verhältnissen, nah und fern.) Wie organisch viele Tempomodifikationen, wie fein so manche dynamische Abstufung … Und wie weit war man doch in Bayreuth und Paris von diesem Niveau entfernt; nicht nur im heurigen Sommer, nicht nur im abgelaufenen Oktober.

Der Chor der Wiener Staatsoper: zweites Atout. (Wenn er will. An diesem Abend wollte man.) Das Schiffsvolk kommt mit leerem Magen: Prestissimo possibile notierte Wagner. Wenn dieser Chor so beschwingt, so hingehaucht erklingt wie Aquarelltupfer auf sonnenbeschienenem Papier, schwerelos schwebt gleich einer prima ballerina bei einer komplizierten Hebefigur: welch ein Eindruck! Natürlich kämpfte man da in Paris mit der fremden Sprache. Dennoch: So mitreißend gelingt diese Stelle auch in Wien nicht alle Tage. Schade um das Chorkonzert …

» Der fliegende Holländer «, 3. Akt: Jörg Schneider, der als Erik in dieser Vorstellungsserie sein Wiener Rollen-Debut gab © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

» Der fliegende Holländer «, 3. Akt: Jörg Schneider, der als Erik in dieser Vorstellungsserie sein Wiener Rollen-Debut gab

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

V.
Riccarda Merbeth war Senta in Paris gewesen — und jetzt in Wien, als Einspringerin. (Die Verwendung der Vorvergangenheit ist nicht nur erlaubt, sondern auch richtig: als Ausdruck des Abgeschlossenen.) Merbeth sang eine ordentliche Senta — nach heutigen Maßstäben des Wagner-Gesangs: mit lauter Stimme. Doch auch mit übergroßem, langsamen Vibrato und wenig Resonanz in der Tiefe. Dennoch gelangen berührende Momente, nicht nur im Liebesduett mit dem Holländer. Und: besser als noch in Paris. Viel besser.

Der Holländer: Sir Bryn Terfel lieh ihm in Wien Spiel und Stimme. In Paris war’s Tomasz Konieczny gewesen. Auch in Summe kein ganzer Holländer. Was dem einen an klarer Diktion abgeht, fehlt dem anderen an Durchsetzungskraft und stimmlichem Volumen. Will sagen: Bei Terfel versteht man — so er sich nicht in den an das passaggio anstreifenden piani auf’s Säuseln verlegt — jedes Wort. (Es sind dies jene » kleinen Helferlein «, die sich viele Sänger im Lauf ihrer Karriere aneignen. Für Not- und andere Fälle.) Terfels Aussprache: klar, deutlich, auch dynamisch nuanciert. Mit Fortdauer des Abends allerdings schwanden die Kräfte. Im Finale zitterte ich, daß ja nichts passiere. (Die letzte Vorstellung als Rettungsanker.) Des Walisers beste Momente: der erste Akt und das Liebesduett.

Beim Daland hatte Paris im Oktober die Nase vorn: Günther Groissböck sang ihn besser auf Linie und in jenem weichen Österreichisch, das unseren nördlichen Nachbarn für immer Geheimnis bleiben wird. Franz-Josef Selig, auch schon lange im » Geschäft «, punktete mit größerem Stimmvolumen und dunklerer Stimmfarbe. Sein Baß klang weniger nach Ochs auf Lerchenau denn nach wind- und wettergegerbtem Seefahrer. Sympathisch, doch auf seinen Vorteil bedacht. Nicht allerdings als Kollege: Da nahm Selig durchaus Rücksicht auf Terfels Holländer.

Noa Beinart als Mary und Daniel Jenz als Steuermann komplettierten das Sänger-Ensemble, ohne dem Institut Schande zu bereiten.

VI.
Jörg Schneider sang Erik. Jörg Schneider sang Erik? Schneider …? Ein lyrischer Tenor? Mehr noch: Schneider ist Sänger. Kaum zu glauben, daß der geborene Oberösterreicher mit jenen zwei Vorstellungen sein Rollen-Debut an seinem Stammhaus gab.

Der Nachweis scheint mir jedenfalls erbracht: Man kann den Erik auch legato singen. (Wenn man kann.) Gewiß, die Partie ist für Schneider eine grenzwertige (wie es beispielsweise auch der Andrea Chenier für Benjamino Gigli war): Hin und wieder hörte man, daß das Möglichste erreicht ward; — vor allem knapp oberhalb des passaggio. Doch ohne daß es störte; ohne daß sich die Klangfarbe der Stimme innerhalb einer Phrase merklich änderte. In der nächsten Minute: ein scheinbar mühelos erreichter forte-Höhepunkt. Jörg Schneider: Stimmbesitzer. (Einer der wenigen. Wir sollten sie preisen.)

VII.
Mehrere solcher Abende, und die Opernwelt wäre eine bessere.

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