Edwaard Liang: »Murmuration« © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Edwaard Liang: »Murmuration«

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Balanchine | Liang | Proietto

Wiener Staatsballett

Von Ulrike Klein

George Balanchine: »Symphonie in C«

Noch als Student komponierte Georges Bizet seine Symphonie in C-Dur, die nicht einmal einhundert Jahre später von George Balanchine mit dem Titel »Le Palais de Cristal« choreographiert  wurde. Balanchines Verdienst ist es, die klassische Ausbildung dahingehend weiterentwickelt zu haben, daß Tanz eine Kunstform wird, die keiner Handlung bedarf, sondern ihre Ästhetik aus den Bewegungen zur Musik schöpft: »Musik ist der Boden, auf dem wir tanzen.«

Die Symphonie in C, wie das Werk heute heißt, weckt Erinnerungen an die großen Ballette von Marius Petipa. Im neoklassischen Stil getanzt, bot das Wiener Staatsballett eine wahre Leistungsschau.

Jeder der vier Sätze stellt ein anderes Solistenpaar in den Vordergrund, dem sich jeweils weitere Solopaare und das Ensemble hinzugesellen.

1. Satz: Allegro vivo

Natascha Mair und Jakob Feyferlik eröffneten den Reigen. Sauber exekutierte die junge Wienerin ihre Kombinationen, nur leider blieb es auch bei der Einstudierung. Nun könnte man meinen, hier gehe es ja auch nur um den Tanz als solches, ohne Handlung und Emotion. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn sich der Ablauf der Bewegungen harmonisch entwickelte und nicht von einer gelernten Pose zur nächsten triebe.

Erfreuliches läßt sich von Jakob Feyferlik berichten: Da wächst uns, im besten Sinne des Wortes, ein danseur noble heran. Es ist die pure Freude, zu beobachten, wie aus den anfänglich unsicher wirkenden Schritten von vor drei Jahren ein selbstsicheres Auftreten geworden ist. Akkurat getanzt, mit fließenden Bewegungen, sauberen port de bras demonstrierte ein aufstrebender Tänzer sein Können.

2. Satz: Adagio

So angetan man möglicherweise war von der Leistung im ersten Satz, so schnell wurde man im zweiten belehrt, worin der Unterschied zwischen einer Tänzerin und einer Ballerina liegt: Das Adagiowurde zur Lehrstunde, was mit ausgezeichneter Technik, eisernem Willem und enormer Bühnenpräsenz zu bewerkstelligen ist. Wüßte man man nicht, wie Liudmila Konovalova sonst tanzt, wie sie sonst strahlt, man merkte nicht, daß hier Schwerstarbeit geleistet wurde. Denn die Wiener Staatsoper meldete auf ihrer Website, daß Frau Konovalova aufgrund einer Verletzung nicht in der Uraufführung von Daniele Proiettos Blanc auftreten könne, daß sie aber dennoch dieses Adagio tanzen werde. Chapeau!

George Balanchines »Symphonie in C«: Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov als Solisten des zweiten Satzes © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

George Balanchines »Symphonie in C«: Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov als Solisten des zweiten Satzes

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Vladimir Shishov demonstrierte einmal mehr, welch hervorragender Partner er ist. Derzeit in ausgezeichneter tänzerischer Verfassung, präsentierte er sich als danseur noble. Elegant und sicher führte er seine Partnerin auch in komplizierten Touren und Hebungen durch das Adagio. Waren im ersten Satz die begleitenden Solopaare noch sehr homogen, so vergrößerte sich nun der Abstand zwischen Hauptpaar und Solopaaren erheblich.

3.  Satz: Allegro vivace

Die Paarung Nina Tonoli und Denys Cherevychko sollte intensiviert werden: Da wurde ein Zusammenspiel aus Freude am Tanz geboten. Von Denys Cherevychko wissen wir, daß diese Art von Brillanz seinem Temperament am besten entgegenkommt. Daß diese Lust am Tanz auch ansteckend sein kann, bewies Nina Tonoli gestern abend. Obwohl noch sehr jung, verfügt sie bereits über einen wunderschönen Ausdruck im Tanz. Da floßen die Bewegungen so harmonisch ineinander, als ob es das Natürlichste überhaupt sei. Auch in den schnellen Kombinationen stimmte der organische Ablauf. Ihr Tanz wirkte niemals einstudiert. Dank der englischen Schule sind die Linienführung der Arme und des Kopfes klar und ungekünstelt.

4.  Satz: Allegro vivace

Alice Firenze und Robert Gabdullin bildeten das Hauptpaar des letzten Satzes. Bevor zur Coda nochmals alle Paare auftraten, zeigten die beiden eine sehr akkurate, überzeugende Leistung. 

Insgesamt bot das Ensemble ein sehr gutes Niveau. Da war sichtlich hart mit Ben Huys gearbeitet worden, der die Einstudierung übernommen hatte.

Edwaard Liangs »Murmuration«: Nina Poláková mit Partner Roman Lazik © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Edwaard Liangs »Murmuration«: Nina Poláková mit Partner Roman Lazik

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Edwaard Liang: »Murmuration«

Nach der ersten Pause stieg die Spannung. Balanchine glaubt man ja als Choreograph zu kennen, und auch die Musik von Georges Bizet. Aber was nun?

Bei der letzten Nurejew-Gala hatte sich Edwaard Liang mit Distant Cries dem Wiener Publikum vorgestellt. Nun ließ er sich von Ezio Bossos Violinkonzert — das Solo war von der Konzertmeisterin des Staatsopernorchesters, Albena Danailova, übernommen worden — zu seiner Choreographie Murmuration inspirieren.

»Murmuration« bezeichnet das Verhalten von Staren, welche sich vor dem einbrechenden Winter in gewaltigen Formationen in mildere Regionen zurückziehen.

Liang läßt die Tänzer in entsprechenden Gruppen/Schwärmen aufeinandertreffen, wieder voneinander trennen, miteinander agieren. Vier Solopaare, allen voran Nina Poláková und Roman Lazik, tanzten zu der sehr eingängigen Musik des italienischen Komponisten. Die beiden Ersten Solisten demonstrierten in dieser modernen Choreographie ihre Stärken. Sie schienen so in sich zu ruhen, daß der Eindruck aufkam, der Tanz entstehe auf ganz natürliche Weise und sei nicht einstudiert worden.

Die grauschwarzen Kostüme, welche an die Federkleider der Stare erinnerten, hatte Edwaard Liang gemeinsam mit Laura Lynch entworfen.

Die Idee, mit den Schatten der Tänzer die Formationen zu vervielfältigen, ist großartig. Die ersten Schneeflocken unterbrechen nach dem ersten Satz den Schwarm, lösen ihn nahezu auf und geben verschiedenen Paaren, Eszter Ledán und James StephensIoanna Avraam und Jakob Feyferliksowie Alice Firenze und Leonardo Basilio den Raum für einfühlsame Soli und Pas de deux. Im dritten Satz, im Schneegestöber, formierte sich dann der Schwarm wieder.

Daniel Proiettos »Blanc«: Ketevan Papava (Die Frau/Sylphide) und Eno Peci (Der Schatten/Poet) © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Daniel Proiettos »Blanc«: Ketevan Papava (Die Frau/Sylphide) und Eno Peci (Der Schatten/Poet)

© Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Daniel Proietto: »Blanc« (Uraufführung)

Zum Abschluß des dreiteiligen Abends wurde Daniel ProiettoBlanc aus der Taufe gehoben. Die Neugierde auf dieses Stück ist spätestens seit dem heurigen World Ballet Day geweckt, als eine Probe aus dem Ballettsaal via Stream live zu verfolgen war.

Zu Musik von Frédéric Chopin und Mikael Karlsson spürt Daniel Proietto dem Wunsch nach Romantik und Ruhe in unserer schnelllebigen Zeit nach. Das Ringen des Künstlers um den Ausdruck ist Thema: der Dichter, welcher vor dem weißen Bogen Papier sinniert, der Komponist, welcher in die Stille hineinhört, der Maler, welcher die leere Leinwand ansieht…

Für das leere, weiße Medium steht Blanc, aber auch für das Sinnbild des weißen Balletts. Mit dieser Doppeldeutigkeit spielt Daniel Proietto und entwickelt mit den Tänzern die fließenden Bilder der Bewegung, der Sprache. Mit Texten von Alan Lucien Øyen, gesprochen von Laurence Rupp, Klaviermusik von Frédéric Chopin, gespielt von Maria Radutu, Videoprojektionen, der Musik Mikael Karlssons und den Kostümen Stine Sjøgrens entsteht ein Gesamtkunstwerk. Es ist ein Vexierbild von Positiv und Negativ, wie wir es aus der Dunkelkammer der Photographen kennen.

Ketevan Papava und Eno Peci gehören zu den ausdrucksstärksten Tänzern der Compagnie. Somit wäre es sehr gut vorstellbar, auf den gesprochenen Text zu verzichten. Diese beiden Künstler sind in der Lage, nur durch Tanz und Ausdruck alles aus der Musik herauszuholen, ohne daß es zusätzlich in Worte gefaßt werden müßte.

Natascha Mair mit Davide Dato und Masayu Kimoto bildeten die Negativ-Variante des Bildes; weiß wurde zu schwarz und umgekehrt, so wie wir es von alten Filmen kennen. Der Effekt war eindrucksvoll. Schade, daß nur die tänzerische Leistung von Davide Dato mithalten konnte: Zwar bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, war er dennoch sofort an seinen geschmeidigen Bewegungen und der Exaktheit seiner en dehors zu erkennen.

Ioanna AvraamNina Tonoli und Eszter Ledán tanzten die drei führenden Sylphiden. 

Die Idee, romantisches Ballett mit Technik (Film und Photographie) und zeitgenössischer Tanzsprache zu verbinden, ist eine besondere Herausforderung — nicht nur für die Tänzer. Im ersten Moment ließ Proiettos Arbeit den Zuschauer sprachlos und überfordert zurückkehren in die Welt des Lichts. Für ein abschließendes Urteil erscheint es notwendig, diese Arbeit mehrfach zu sehen.

Daniele Proietto betonte im Vorfeld in Interviews, daß er die Traditionen, den Glamour und die Theatralik alter Ballette liebt. Diese Liebe zu der Zeit der großen weißen Ballette des 19. Jahrhunderts und deren Rezeption im 20. Jahrhundert durch Michel Fokine setzte der aus Argentinien stammende Tänzer und Choreograph um. Wie schon in Le Cygne spielte er mit der Formensprache des klassischen Tanzes, die immer die Grundlage der zeitgenössischen Choreographen sein sollte. Für Daniele Proietto ist die Tradition wichtig: »Die Tradition ist ein Schatz, von dem wir profitieren können.«

Nach diesem Leitsatz wurde hier gearbeitet. Und nicht, wie so oft, nur gesprochen.

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