»Die Weiden«: Udo Samel als Krachmeyer, ein Komponist, und Wolfgang Bankl als Demagoge (vorne links Sylvie Rohrer als Fernsehreporterin) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Weiden«: Udo Samel als Krachmeyer, ein Komponist, und Wolfgang Bankl als Demagoge (vorne links Sylvie Rohrer als Fernsehreporterin)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Gedanken zu… »Die Weiden«

Wiener Staatsoper

Von Thomas Prochazka

Rezensionen haben sich dem Diktat der Zeit zu unterwerfen: Die interessierte Öffentlichkeit will rasch unterrichtet sein. Ihre Meinung an jener des Kritikers spiegeln. So bleibt beim ersten Wurf manches Erwähnenswerte ungesagt.

Johannes Maria Staud und Durs Grünbein schufen mit Die Weiden ein auf unsere Zeit bezugnehmendes Stück; — keine Oper. Aber durchaus mit parteipolitischen Intentionen. Eine Re­flexion wird daher letzteren Aspekt schwerlich ausklammern können. Denn in einem hat Staud recht: Es gibt Zeiten, in welchen Stellung zu beziehen ist. 

II.
Direktor Meyer gab das Werk vor vier Jahren in Auftrag. Man darf durchaus annehmen, daß damals nur eine Idee existierte, wovon das Stück handeln werde. Interessant auch, daß am Pro­grammheft die Namen »Durs Grünbein« und »Johannes Maria Staud« gleich­berech­tigt neben­einander stehen. Erster Hinweis für das Außerkraftsetzen von »Prima la musica, poi le parole«.

Gerüchteweise war das Werk zu Probebeginn im September 2018 noch nicht vollendet. Und es war unsicher, ob die Uraufführung würde stattfinden können. (Es scheint sich hierbei um eine jahr­hundertelang bestehende Theatertradition zu handeln.) Damit erübrigt sich allerdings jede Diskussion, ob die Staatsoper ein schwaches Werk kommissioniert habe. Hat sie nicht. Sie ging ein Risiko ein, zu welchem sie § 2 des Bundestheaterorganisations-Gesetzes explizit verpflichtet: der Pflege des zeitgenössischen Musiktheaters.

III.
Eine Uraufführung gewährt dem Regisseur und den Ausstattern alle Rechte: Einzig den in der Partitur eingetragenen Handlungs- und Szenenanweisungen ist sich das Team schuldig. In die­sem Fall war Spielleiterin Andrea Moses seit Jahren in die Konzeption eingebunden, sodaß eine Interpretation im Sinne des Komponisten und des Librettisten angenommen werden darf.

Allerdings werden bereits im ersten Bild handwerkliche Fehler offenbar: Wenn Leas Mutter fragt, ob die Tochter schon da sei, ergibt sich daraus, daß Lea (Rachel Frenkel) nicht bei ihren Eltern wohnt. — Warum allerdings lehnt dann ihr gepackter Trekking-Rucksack neben dem Fau­teuil im elterlichen Wohnzimmer? Seltsam auch, daß Lea ohne Schlafsack auf große Fahrt geht. (Wer jemals als Rucksack-Tourist unterwegs war, weiß, daß man den Schlafsack außen am Rucksack befestigt, um so wenig Packraum wie möglich zu verlieren.) Auch der gelbe Hosen­anzug (so gut er Rachel Frenkel kleiden mag) steht im Widerspruch zu den Beschrän­kungen eines Rucksack-Touristen. (Ähnlich verhält es sich mit dem roten Hosenanzug, welcher Lea bis zum Finale begleiten wird.)

Ihr Freund, der Künstler Peter (Tomasz Konieczny), scheint überhaupt mit leichtem Gepäck zu reisen: In keiner Szene sieht man seinen Rucksack. Und in den Szenen mit dem Kanu fehlt das (verpackte) Zelt...

»Die Weiden«: Rachel Frenkel als Lea, eine junge Philosophin © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Weiden«: Rachel Frenkel als Lea, eine junge Philosophin

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

IV.
Ebenso von Beflissenheit zeugt der Versuch, im Bild »Hochzeit im Strombad« irgendwie Burschen­schafter unterzubringen. Der Teufel steckt auch hier im Detail: Richtig ist, daß eine Abordnung von Chargierten immer zu dritt auftritt. Jedoch führen sie dann die Fahne ihrer Verbindung mit sich. Des weiteren ist der Paradeschläger auch bei nichtschlagenden Verbindungen integraler Bestandteil der Vollwichs. Ebenso wie das Cerevis, welches, einer Fahne gleich, in Ehren zu hal­ten ist. Und wie letztere niemals den Boden berühren, beschmutzt werden darf. (Was während des Handgemenges in der Première passierte. Diese Schmach wäre ehestens zu sühnen gewesen.)

Weiters bleibt die Frage offen, wieso Chargierte auf einer Hochzeit in einem Dorf oder einer Markt­gemeinde auftreten. Diese Verbindungen sind studentischen Ursprungs und daher vor allem in den Universitätsstädten anzutreffen. Da Edgar im Programmheft als »Hochstapler«, nicht aber als Akademiker eingeführt wird, gibt es keinen Grund, warum Chargierte auf seiner Hoch­zeit mit Kitty anwesend sein sollten.

Diese Liste an Fehlern ließe sich fortsetzen. — Kleinigkeiten? Vielleicht. Aber Details, welche einem zu denken geben: Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt.

V.
Grünbeins Libretto erzählt ein Stück ohne Held: Keine der Hauptfiguren Lea, Peter, Kitty oder Elgar nehmen eine aus der Sicht des Publikums interessante Rolle eines Außenseiters gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft ein. Was soll uns an Lea fesseln? Daß ein junges Mädel mit ei­nem ihm kaum bekannten jungen Mann eine Kanufahrt absolviert? Daß mit Edgar ein »Jung­unternehmer und Hochstapler« (so die ausführliche Inhaltsangabe im Programmheft) mit Kitty eine schöne Osteuropäerin heiratet? Daß Paare miteinander in Streit geraten? — Diese Dinge gesche­hen jeden Tag hunderte Male. Sie sind uns völlig gleichgültig. Berühren uns nicht. (Und zurecht.) 

VI.
Oper, aber auch Theater funktionieren nicht ohne eine emotionale Bindung des Pub­likums an mindestens eine der Hauptfiguren. — Die Person des Shylock interessiert uns mit seinem Haß auf die ihn unterdrückenden Christen Venedigs, mit seiner Bereitschaft, trotz alledem mit ihnen Handel zu treiben. Shakespeare macht uns neugierig auf den Ausgang des Geschäfts mit Antonio.

Mit Manrico, dem Revolutionär, fiebern wir mit im Kampf um Leonora und gegen den Conte di Luna. Die Entdeckung der Liebe durch Violetta in ihren letzten Monaten des Daseins, ihr Kampf um Alfredo und gegen die Normen einer »besseren« Gesellschaft: Sie berühren uns. Grünbeins Lea und Peter ... lassen uns achselzuckend zurück.

»Die Weiden«: Monika Bohinec und Herbert Lippert als Leas Eltern in ihrem Apartment mit Blick über Manhattan (Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Kathrin Plath) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Weiden«: Monika Bohinec und Herbert Lippert als Leas Eltern in ihrem Apartment mit Blick über Manhattan (Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Kathrin Plath)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

VII.
Nämliches gilt für Stauds dahinplätschernde Tonmalereien. Was hätten doch ein Bellini, ein Verdi, ein Puccini allein aus der Szene des Oberförsters (Wolfgang Bankl), des Flüchtlings (Vitan Bozinovski) und der zuerst beobachtenden und dann entdeckten Lea gemacht! Eine zwei-, viel­leicht sogar dreiteilige Arie, ein erregtes Rezitativ zwischen den Männern sowie, nach Leas Ent­deckung, ein die Szene krönendes, in raschem Tempo danhinjagendes Terzett. Bei Staud ent­wendet der Oberförster Lea ihren Fotoapparat und stapft unter dem Geräusch der sich dre­hen­den Bühne und Melodien vermeidender Töneproduktion in die nächste Szene…

Wie hätten ein Donizetti, ein Rossini Leas Schlußszene gestaltet? (Und ja, das ist die Qualität, wlecher man sich zu stellen hat.) Wahrscheinlich mit großem Ein­gangs­chor und einer zweiteiligen Bravour-Arie, an deren Ende Lea leblos zusammengesunken und das Publikum der Uraufführung jubelnd von seinen Sitzen aufgesprungen wäre. Bei Grünbein und Staud heißt es in der Inhaltsangabe lakonisch: »Lea trifft auf ihre hier ermordeten Ahnen und erfährt dadurch eine Identitätsfindung.« (Vastehste.)

VIII.
Was wollen uns Grünbein und Staud mitteilen, wenn sie Leas Eltern als wohlhabend, nein, reich, in ihrem Apartment mit Blick über Manhattan zeigen? Daß es doch eigentlich deren Glück war, in den finsteren Jahren von Herrn Hitler und/oder seinen Spießgesellen vertrieben, zur Ausreise »aufgefordert« worden zu sein? Vielleicht sogar noch unter geforderter Zurücklassung all ihrer Habe? Daß alles, was ihnen widerfuhr, letzten Endes doch nicht so schlimm war? (Denn in dem Dorf an der Dorma wären sie wohl niemals zu ihrem Reichtum gelangt.)
War es doch.

IX.
Grünbein wird erst im Epilog deutlich. Was er — wissentlich oder unwissentlich — verschweigt, ist die Tatsache, daß die Verfolgung und Benachteiligung von Menschen mosaischen Glaubens schon seit Jahrhunderten währt. Man entsinne sich Shylocks Untergang. Solch »christliches« Vor­­gehen mußte man im 20. Jahrhundert nur mehr kopieren. Und — selbstverständlich — »verbessern«. (Das macht die Angelegenheit selbst­verständlich nur noch unappetitlicher. Es verdeutlicht aber, daß dieses Thema die Gesellschaften schon länger begleitet.)

Grünbein und Staud versuchen, uns für Vorgänge von vor über 70 Jahren zu interessieren; — wo sich doch die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen eher an Samuel P. Huntingtons »The Clash of Civilizations« zu orientieren scheinen.

»Die Weiden«: Wolfgang Bankl (Oberförster), Vitan Bozinovski (Flüchtling) und Rachel Frenkel (Lea) © Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

»Die Weiden«: Wolfgang Bankl (Oberförster), Vitan Bozinovski (Flüchtling) und Rachel Frenkel (Lea)

© Wiener Staatsoper GmbH/Michael Pöhn

Außerdem wäre da noch das Faktum, daß in der »Gegend am ›Großen Strom‹« bereits unter sozial­demokratisch geführten Vorgängerregierungen bestens integrierte Emigranten gegen den Willen ihrer Nachbarn und Arbeitgeber und Freunde abgeschoben wurden. Dieses Unkraut sprießt also nicht erst seit zwei Jahren. Und nicht nur in der Gegend, in welcher das Stück spielt. Es bleibt die Frage, ob denn nicht die Regierenden der letzten Jahrzehnte etwas falsch gemacht haben, wenn nationalistisches Gedankengut so an Zuspruch gewinnen konnte? Verwechselte man erfolgreiche Integration mit dem Entstehen von Parallelgesellschaften? (Und verschloß davor die Augen in der Hoffnung auf Wählerstimmen und Machterhalt?)

X.
Selbst wenn Grünbeins und Stauds Predigt gut wäre: Sie wendet sich an die Falschen. Es wäre in diesem Werk mindestens, wie in Christian Kolonovits’ El Juez, eine zweite Ebene einzuziehen ge­wesen: jene der Entscheidungsträger und ihres Umgangs mit den beobachteten Phänomenen. Solcherart und kraftvoll in Wort und Ton gesetzt, hätte dem Stück — vielleicht! — die Spreng­kraft zu breiterer gesellschaftlicher Diskussion geeignet.

So allerdings … wiegen sich Die Weiden nur kraftlos im Wind. Und ihr bemüht politisches Säu­seln ist bereits vergessen, ehe man den Zuschauerraum verlassen hat.
Zurecht.

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