»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Stanislas de Barbeyrac in der Partie des Titus Vespasianus © Opéra national de Paris/Emilie Brouchon

»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Stanislas de Barbeyrac in der Partie des Titus Vespasianus

© Opéra national de Paris/Emilie Brouchon

Wolfgang Amadeus Mozart:
»La clemenza di Tito«

Opéra national de Paris

Von Thomas Prochazka

Reisen erweitert den Horizont. (So das Sprichwort.) Doch birgt es die Gefahr schmerzlicher Erkenntnisse. In diesem Fall: Wien ist, was die Qualität der gesanglichen Darbietungen betrifft, längst schon Paris geworden. Genauer gesagt: »Paris 2.0«. Dies verwundert kaum, amtiert doch der mit dem 31. Juli 2021 scheidende Musikdirektor der Opéra national de Paris seit 1. September 2020 als Musikdirektor der Wiener Staatsoper.

Die Vorstellung, von der in der Folge die Rede gehen wird, beschloß also nicht nur eine von »Sie wissen eh« gebeutelte Spielzeit 2020/21, sondern auch Philippe Jordans Wirken als musikalischer Leiter an der Opéra.

II.
Rückblende. Paris, 1997: Willy Decker beschränkt sich — nimmt man die Dernière als Maßstab — in seiner Inszenierung von La clemenza die Tito auf nur eine Idee: Aus einem übermannsgroßen Marmorquader schält sich im Laufe des Abends die Büste des Titus Vespasianus. Von Szene zu Szene wird der Quader anders positioniert. Werden Teile herausgebrochen. Wird der Kopf des Herrschers sichtbarer und sichtbarer. Im Finale schließlich präsentieren Decker und sein Ausstatter John Macfarlane dem Publikum Titus’ Büste. Von hinten.

Zusätzlich wird die Bühne im Hintergrund von einem halboffenen, leicht schräggestellten Zylinder begrenzt. Dieser öffnet sich nur in wenigen Szenen: erstens, um dem Chor Auf- und Abtritte zu ermöglichen, zweitens, um in der Schluß-Apotheose die Öffnung der (römischen) Gesellschaft zu zeigen. Um den Quader bzw. die Büste gruppieren sich Sänger und Chor. Ein allem und jedem feindlich gesinnter Chor, der die (farbige) Berenice vertreibt und Servilia zu Leibe rückt, als diese ihrer Liebe zu Annio wegen Titus’ Antrag auf die Herrschaft zurückweist. Der Chor erhält bei Decker auch die kommentierende Funktion des antiken Theaters: mal zürnend, mal aufrührerisch, mal huldigend.

Ansonsten prunkt Deckers Arbeit mit den Insignien dessen, was wir im allgemeinen unter »Regietheater« verstehen. (Die Angelsachsen prägten mit »director’s theater« einen die Angelegenheit viel besser beschreibenden Begriff.) In schlecht gespielter Verzweiflung klammern sich Sänger immer weider an den Mamorblock, nähern einander unwissentlich von zwei Seiten, erschrecken ob der Anwesenheit des jeweils anderen. Rastet Titus auf seiner halbfertigen Büste, mit unechten roten Rosen im Arm. Umkreist der Chor das Herrscherdenkmal, als gäbe es keine anderen Wege auf der Bühne des Palais Garnier.

Und sollten denn wirklich einmal Umbauten notwendig werden, stellt Macfarlane einen Zwischenvorhang bereit, vor dem weiter gespielt werden kann. Ihn zieren, skizzenhaft hingeworfen, ein mit einem Dolch bewehrter Arm, der in ein Herz fährt, sowie, schemenhaft in gelb und verblaßten Orangetönen gemalt, eine Herrscherkrone und jene wolkigen Gebilde, welche uns Hinweise auf das Thema sein sollen.

Davor laufen Personen hin und wider. Wer wo und warum auf- oder abtritt, wird so einsichtig nicht. Auch sonst wird, in Ermangelung anderer Requisiten, gemeinsam gekniet, was das Zeug hält. Anders scheint Titus Sestos Verrat nicht zu ertragen.

Vitellia muß in ihrer großen Szene »Non pìu di fiori« Titus’ Mantel überwerfen, sich dessen Krone auf das Haupt setzen und auf seinem Thron Platz nehmen. Dieser steht auf weg­gebrochenem Material der Büste. Sehr wackelig, die ganze Angelegenheit.

Publio tritt des öfteren auf, singt ein paar Takte und geht wieder ab, nur um sofort wieder auf der Spielfläche zu erscheinen. Papierene Todesurteile werden zerknüllt und wieder geglättet, ehe sie zerrissen werden, Federkiele schreiben ohne Tintenfässer, die Kostüme atmen die Zeit von 1790.
(So waren, in etwa, die Begebenheiten.)

Macfarlane spiegelt in der Farbe der Kostüme die Zugehörigkeiten: Schwarz für Publio und den Chor (als Vertreter der Öffentlichkeit), gelb für Servilia und Annio; weiß für Titus; vom Dunkelgrau ins Hellgrau wechselnd: Sesto; — und von einer schwarzen in eine weiße Robe schlüpfend: Vitellia.

Dennoch bleibt Deckers Arbeit näher am Werk als jene Peter Sellars’ in Salzburg oder Jürgen Flimms in Wien. Im Ende entpuppt sich diese Form des »Regietheaters« als Händeringen und Rampensingen. Doch wer es feststellt, wird mit dem Mal des Konservatismus gebrandmarkt.  Manchmal auch des »Spät-Schenkismus« oder »Zefirellismus« geziehen. (Es sei.)

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Christian Van Horn (Publio), Amanda Majeski (Vitellia), Stanislas de Barbeyrac (Titus Vespasianus), Michèle Losier (Sesto), Jeanne Ireland (Annio), Anna El-Khashem (Servilia) und der Chœur de l’Opéra national de Paris mit obligater »COVID-19-Verkleidung« (auch: Mund-Nasen-Schutz) © Opéra national de Paris/Emilie Bouchon

»La clemenza di Tito«, 2. Akt: Christian Van Horn (Publio), Amanda Majeski (Vitellia), Stanislas de Barbeyrac (Titus Vespasianus), Michèle Losier (Sesto), Jeanne Ireland (Annio), Anna El-Khashem (Servilia) und der Chœur de l’Opéra national de Paris mit obligater »COVID-19-Verkleidung« (auch: Mund-Nasen-Schutz)

© Opéra national de Paris/Emilie Bouchon

III.
Mark Wigglesworth am Pult des Orchestre de l’Opéra national de Paris machte seine Sache, aus der Brille des 21. Jahrhunderts betrachtet, gut. Des Dirigenten Interpretation steht jener eines Ádám Fischer (oder, mit Einschränkungen, eines István Kertész) näher als jener vom Feuilleton substanzlos gelobten von Teodor Currentzis. Vor allem den Chorszenen eignete jenes Vorwärtsdrängen, das wir in Mozarts Opern so oft missen (müssen). In den Arien und Ensembles schien mir Wigglesworth manchmal zu nachgiebig. Da bestimmten die Solisten zu oft das Tempo, doch ohne daß dies durch die Partitur oder einen Interpretationsansatz gerechtfertigt schien. (Keine tempi rubati.)

IV.
Von den Sängern hinterließen die beiden Herren die besten Eindrücke, wenngleich die Tugenden der Großen, längst Hinabgesunkenen (wie der richtige Gebrauch von portamento und legato) auch an diesem Abend ein rares Gut war. Christian Van Horn war ein präsenter Publio mit für das Palais Garnier ausreichender Stimme. Phasenweise entledigte er sich seiner Aufgabe allerdings mit unstetem und somit wechselhaftem Erfolg.

Stanislas de Barbeyrac bot den Titus mit breit geführtem, den ganzen Abend hindurch abgedunkeltem Tenor. Das funktionierte über weite Strecken zufriedenstellend bis gut. Vorausgesetzt, man blendete die mit dieser Art zu singen einhergehenden, gesangs­technischen Fehler aus. Denn ab dem passaggio verengte sich de Barbeyracs Stimme zusehends, klang Vieles gaumig; und zu tief — wiewohl (achtbarerweise) nicht mit reiner Kopfstimme gesungen. Doch wie sich an italienisches Repertoire wagen, wenn die Titus-Höhen bereits hörbare Schwierigkeiten bereiten?

»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Amanda Majeski als Vitellia und Michèle Losier als Sesto © Opéra national de Paris/Emilie Bouchon

»La clemenza di Tito«, 1. Akt: Amanda Majeski als Vitellia und Michèle Losier als Sesto

© Opéra national de Paris/Emilie Bouchon

V.
Jeanne Ireland als Annio und Anna El-Khashem als Servilia komplettierten das Solisten-Ensemble. Rollendeckend. El-Khashem machte mir mehr Eindruck; — vielleicht, weil Ireland so oft zu spät einsetzte, hinter der Musik blieb?

Michèle Losier, eben noch in Wien kein Zoll eine Carmen, mühte sich auch mit der Partie des Sesto. Da klang wenig überzeugend, musikalisch durchgearbeitet. Losiers Stimme verlor im passaggio und darunter viel von ihrer Durchschlagskraft; wurde vom Orchester öfter zugedeckt, als einem lieb sein konnte. Stellenweise bot die Sängerin jenes »Gurren«, welches eine italienische Mezzosopranistin seit Jahrzehnten zu ihrem Markenzeichen macht. (Und das, all solchen Anstrengungen zum Trotz, dem Fachmann doch nur als Nachweis stimmlichen Mangels gilt.) Viele im Publikum hörten darüber hinweg. Ebenso hörten sie wohl darüber hinweg, daß Mozart Sesto in seiner großen Szene »Parto, parto« die Klarinette solistisch zur Seite stellte. Ob es à la mode war, daß er Vitellia in »Non pìu di fiori« mit dem Bassetthorn konzertieren ließ? (In Wien seinerzeit immer — und unnachahmlich — von Ernst Ottensamer geblasen.) Wollte Mozart dadurch die (immer noch bestehende, wenngleich einseitige) Liebe zwischen Vitellia und Sesto ausdrücken?

Die Vitellia der Amanda Majeski ließ eine Stimme mit für das Palais Garnier ausreichendem Volumen hören; — das heißt, wenn es nicht um den Einsatz der unteren Stimmfamilie ging. Denn dort wurde Majeski fast unhörbar, mit Ausnahme jener Phrasen, die die Sängerin kurzerhand deklamierend vortrug.

Das Grundübel jeder falsch strukturierten (weiblichen) Gesangsstimme ist jedoch, daß der musikalische Vortrag nicht nur in jenem Bereich, in welchem die Bruststimme (teilweise oder komplett) einzusetzen wäre, leidet; sondern auch die Höhe: Um diese dennoch zumindest für ein paar kurze Karrierejahre zum Ertönen zu bringen, muß zu »Abhilfemaßnahmen« gegriffen werden. Das Resultat waren an diesem Abend abgesetzte, helle, sich zum Teil bereits scharf präsentierende Spitzentöne, die sich nicht harmonisch in den vokalen Vortrag einbinden ließen. Von ihnen bot Majeski reichlich; — es bleibt die Frage, wie lange noch.

VI.
Man singt in Paris leider auch nicht besser als in Wien.
Schade, eigentlich.

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