»Dark Nights«

Von Thomas Prochazka

Sonntag, 5. August 2018, 21:35 Uhr: Der Bühnenvorhang im Großen Festspielhaus senkt sich, zum ersten Mal nach dem Ende von Tschaikowskis Pique Dame. Applaus und — als der Spielvogt die Bühne betrat — Mißfallenskundgebungen ersterben augenblicklich. Offenbar gibt es von seiten des Publikums nicht mehr zu sagen. (Diese anämische Applausdauer: für Wiener Opernfreunde immer wieder ein verstörender Moment.)

Außerdem: Für Punkt 21:30 Uhr war der Beginn des (fakultativ zu buchenden) Gala Dinners in der Residenz vorgesehen. Mit den Künstlern der Première. Oder aber es galt eine für dieselbe Zeit gebuchte Reservierung zum Abendessen wahrzunehmen, in einem der Salzburger Gastro­nomiebetriebe gehobenen Standards. — Man spute sich also, ehe der Tisch neu vergeben wird. (Die Salzburger verhalten sich, was die Qualität der Dienstleistungen betrifft, ihren Gästen gegenüber manchmal eigenartig.)

II.
Verstört oder nachdenklich ließ diese Vorstellung kaum jemanden zurück. Aus welchen Gründen auch immer. Dabei gälte es über eine Menge nachzudenken: über die Gier nach Reichtum und die Mittel, welche wir zur Erreichung dieses Ziels einsetzen. Über die verschiedenen Arten, in wel­chen uns die Liebe begegnet. Über den Zustand einer Gesellschaft, welche die Reichen und Schönen und Mächtigen unreflektiert hofiert. Ihnen den roten Teppich ausrollt vor dem Festspielhaus.

Mit der Musik  — vermochten wohl wenige nur etwas zu beginnen. Die Oper Pique Dame steht nicht so oft auf den internationalen Spielplänen. Doch zum Glück gab es Übertitel in deutscher und englischer Sprache. So vermochten die Besucher dem Gesang — in russischer Sprache! Bitte, wer ist schon des Russischen mächtig? — und damit der Handlung einigermaßen zu folgen. Welch tolle Errungenschaft, diese Übertitel!

Wenn ich Karten für die Première von ›Boris Godunow‹ unter Claudio Abbado bei den Salzburger Festspielen habe, finde ich die Zeit, mich vorzubereiten und vorher das Textbuch zu lesen.

Eine Besucherin im ORF-Radio Ö1

III.
Salzburger Festspiele, 7. August 1994. Claudio Abbado dirigiert Mussorgskis Boris Godunow in der szenischen Realisierung von Herbert Wernicke. Und untersagt — horribile dictu! — den Ein­satz von Übertiteln. Abbados Begründung: Diese lenkten von den Vorgängen auf der Bühne ab. (Der Mann wußte nicht, wie recht er hatte.)

Es waren dies Zeiten, da befragte der österreichische Radiosender Ö1 nach der Vorstellung nicht Kritiker oder »Fachleute«, sondern das Publikum. Nicht absichtsvolle Schwurbelei, markige Ansagen waren gefragt. Kurzum, Ö1 wollte in Erfahrung bringen, ob die fehlende Übersetzung des Textes nicht das Verständnis erschwert habe. Antwort einer jungen Besucherin: »Wenn ich Karten für die Première von Boris Godunow unter Claudio Abbado bei den Salzburger Fest­spielen habe, finde ich die Zeit, mich vorzubereiten und vorher das Textbuch zu lesen. Dann weiß ich, worum es geht und benötige keine Übertitel!«

Manche Begebenheiten sind unserem Gedächtnis unauslöschlich eingeschrieben.

IV.
Seit ca. 30 Jahren buhlen die Opernhäuser und Festspiele um ein vermeintlich immer kleiner werdendes Publikum. Die Einführung der Übertitel, die aus den U.S. nach Europa einge­schleppten »pre-concert talks«: zusätzliche Angebote für den eiligen (oder seltenen) Opern­besucher von heute.1 Sie dienen der Animation zum Besuch, getreu dem Motto: »Du mußt nichts wissen, wir sorgen für alles.«

Allein: So funktioniert Oper nicht. Nicht als Kunstform. Und nicht als Spektakel. — Und das menschliche Gehirn auch nicht.

V.
Stellen sir uns vor, wir befinden uns gemeinsam mit anderen Neugierigen im abgedunkelten Zuschauerraum eines Opernhauses...

Alle Mobiltelefone sind ausgeschaltet. Niemand versucht den professionellen Theater­photo­graphen Konkurrenz zu machen, mit doch nur untaugliche Ergebnisse erzielenden Mitteln. Einzig die Bühne und — soweit notwendig — die Pulte der Musiker im Orchestergraben sind be­leuchtet. Während unsere Ohren der Musik lauschen, lassen wir die Augen über die Bühne wandern. Sie bestätigen optisch den Sekundenbruchteile zuvor akustisch empfangenen Sinneseindruck. Unser Gehirn arbeitet im sensorischen Modus.

Das Lesen von zusätzlich angebotenen Übertiteln (gleichgültig, ob diese über dem Bühnenportal oder im Sitz des Vordermannes angezeigt werden) versetzt unser Gehirn in einen aktiven, intellektuellen Modus. Wir lesen. Sofort treten die sensorischen Empfindungen in den Hinter­grund. Musik und Gesang werden nur mehr beiläufig aufgenommen. Der Blick auf die Bühne bestätigt das Gelesene, nicht das Gehörte. Mit jedem neu eingeblendeten Text verläßt unser Gehirn den empfangenden sensorischen Modus. Und unsere Augen sind (zumindest bei den auf den Bildschirmen im Sitz des Vordermannes eingeblendeten Übertiteln) mit dauernder Akkom­modation (dem Fokussieren von Nah- auf Fernsicht und zurück) beschäftigt.

Die Folge: Das Publikum wechselt seine Rolle. Es wird vom Empfänger zum Beobachter, gilt es doch, die Richtigkeit der gelesenen Texte vom Auge überprüfen zu lassen. Und diese Beobachter­rolle verstärkt sich weiter, wenn ein fälschlicherweise Autorenschaft an einem Werk bean­spruchender Spielleiter eine Szene schafft, die das Gelesene konterkariert.

Die Distanz zwischen Werk und Publikum vergößert sich, anstatt sich zu verkleinern.

VI.
Wie wäre dem entgegenzuwirken? Vielleicht mit »Dark Nights«. (Heutzutage muß alles eine en­glische Bezeichnung tragen: — als Vorbedingung für möglichen Erfolg.)

Nehmen wir an, Opernhäuser verkünden in ihren Spielplänen, daß bei der dritten, vierten und sechsten Vorstellung einer Serie auf Übertitel verzichtet wird.2

Nehmen wir ferner an, der Direktor wagte es, vor jeder dieser Vorstellungen das Publikum persönlich einzuladen, seine Mobiltelefone bis zum Verlassen des Hauses auszuschalten. Ver­sicherte das Parkett der Freiheit, drei oder vier Stunden lang keine SMS, Tweets und Facebook-Nachrichten prüfen oder beantworten zu müssen. Bestärkte das Publikum darin, sich dem Zauber der Kunstgattung Oper mit allen Sinnen hinzugeben.

Nehmen wir darüberhinaus auch an, dieser für sein Haus und die Gattung Oper brennende Intendant vermochte dem Publikum bewußt zu machen, daß von der Bühne aus jedes ein­ge­schaltete Mobiltelefon und jeder Photoapparat durch das emittierende Licht zu sehen ist.3 Daß diese Lichtquellen nicht nur die Umsitzenden stören, sondern auch von den Sängern als unbedingter Ausdruck des Mißfallens — oder der Langeweile — des jeweiligen Besuchers aufge­faßt werden muß. Und daß solches Verhalten nicht dazu angetan ist, die Mitwirkenden zu ihrer Höchstform auflaufen zu lassen.

Das Ergebnis wären zumindest subjektiv, höchstwahrscheinlich jedoch auch objektiv bessere, weil intensiver erlebte Vorstellungen. Mit Sängern, welche sich geschätzt fühlen, mit einem Pub­likum bar jeder Ablenkung vom Gegenstand.

VII.
Eine ungewöhnliche Idee? Wahrscheinlich. Eine Narretei? Vielleicht. Undurchführbar? Mit­nichten. Es käme auf den Versuch an. Woran es bislang fehlt, sind Direktoren erster Opernhäuser, welche sich trauen, »Dark Nights« Wirklichkeit werden zu lassen.

  1. Conrad L. Osborne vertritt in seinem Buch »Opera a Opera. The State of the Art« sogar die für das Publikum von heute wenig schmeichelhafte Ansicht, Übertitel versuchten dessen Unfähigkeit zu kom­pensieren, sich vorab mit der Handlung einer Oper, ihren Charakteren und den gesungenen Text vertraut zu machen (S. 67).
  2. Für den Großteil der Opern des Kanons können die Libretti oder ausführliche Opernführer meist für das Geld einer oder zweier Kinokarten erworben werden. Vielfach sind sie auch in den Hochglanz-Aus­gaben der CD-Einspielungen enthalten. Der aus diesen Büchlein zu ziehende Gewinn lohnt die Ausgabe in jedem Fall.
  3. Der Direktor könnte hinzufügen, daß das Opernhaus auf seiner Website professionell aufgenommene, hochauflösende Photos aller am Spielplan stehenden Produktionen zur Verfügung stellt. Und daß diese Photos für den persönlichen Gebrauch kostenfrei sind und man sich doch, bitte, diese herunterladen solle, anstatt die Vorstellung durch Photographieren zu stören.

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