Art déco-Plafond des Théâtre des Champs-Élysées, Paris © Thomas Prochazka

Art déco-Plafond des Théâtre des Champs-Élysées, Paris

© Thomas Prochazka

Gaetano Donizetti:
» Maria Stuarda «

Salzburger Festspiele

Von Thomas Prochazka

Die Aufgabe eines Opernregisseurs: Die Beweggründe und emotionalen Zustände der handelnden Personen sichtbar zu machen, dabei musikalisch Ausgedrücktes im Spiel zu verstärken. Nicht: ein beliebiges Thema hervorheben und alle anderen vernachlässigen. Nicht: Rücksichtslosigkeit wider die Sänger walten lassen.

Die Aufgabe eines Dirigenten als Letztverantwortlichen einer Aufführung: den Abend dynamisch und rhythmisch zu gliedern, Graben und Bühne zu koordinieren. Eine Stütze den Sängern. Nicht: uninspirierte, gestische Begleitung.
Beides mißlang — mehr oder weniger prächtig.

II.
Warum führt man Donizettis Maria Stuarda bei den Salzburger Festspielen auf? (Warum nicht?) Bedarf es eines Mottos, wenn man die Kraft fühlt, eine Oper bestmöglich in Musik und Szene zu setzen? Denn: Aus allen Werken kann ich alles herausgeheimnissen.

Wie unter einem Brennglas verdichten sich in den Werken dieses Festspielsommers unsere Fragen, unsere Zweifel, unsere Einsamkeiten, unsere Ängste und lichtesten Hoffnungen […], ließ das Direktorium im Jahresprospekt wissen. Begründete so die Aufführungen von Maria Stuarda ebenso wie die Wiederaufnahme des Verdischen Macbeth. Wie gut, daß man schon vor zwei Jahren wußte, daß das diesjährige Motto auf Macbeth zutreffen wird. Nicht aber auf Die Zauberflöte. Oder auf Il trovatore. Oder den Ring des Nibelungen. So entlarven sich vorgeblich programmatische Worte als jene hohle Phrasen, welche sie von allem Anfang an waren.

III.
Ulrich Rasche zeichnete für Bühnenbild und Regie verantwortlich. Dennis Krauß (Regie) und Manuel La Casta (Bühne) durften mitarbeiten. Vorbei sind die Zeiten, als ein Jean-Pierre Ponnelle im Alleingang Theaterzauber zu entfachen wußte … Heute bedarf es außerdem noch einer Dramaturgin (Yvonne Gebauer), die mit dem Spielvogt per Du ist und für das Programmheft das obligatorische Erklären-Sie-mir-was-Sie-sich-dabei-gedacht-haben-Interview führt. (Als müsse sich eine Inszenierung nicht von selbst ihrem Publikum erschließen.)

Und, kaum zu glauben, es bedurfte eines Choreographen (Paul Blackman), ein Werk des Belcanto auf die Bühne des Großen Festspielhauses zu hieven. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor sang unsichtbar plaziert, während Tänzer von SEAD – Salzburg Experimental Academy of Dance die Bühne bevölkerten und für das Verständnis des Fortgangs der Handlung offenbar unabdingbare rhythmische Bewegungen ausführten.

Ulrich Rasche ist ein Mann unserer Zeit. » Wiederverwertung « (neudeutsch: recycling) heißt jenes Zauberwort, dem sich selbstverständlich der nicht nur in Kritikerkreisen hochgelobte Markus Hinterhäuser weder verweigern kann noch will. Deshalb kam auch das Salzburger Festspielpublikum in den Genuß des Prinzips schwenk-, fahr-, dreh- und beleuchtbarer Scheiben auf einer ansonsten kahlen und dunklen Bühne (Licht: Marco Giusti); gleich den Besuchern der Straussschen Elektra-Produktion am Grand Théâtre de Genève (2022). Und jene der Hofmannsthalschen Elektra in München (2019). Und der Perser in Salzburg (2018). Und des Woyzeck am Basler Schauspielhaus (2017).

IV.
Die schreckliche Wahrheit: Ulrich Rasche ist kein Opernregisseur.

Als solcher wüßte er um den Hochleistungssport Operngesang und dessen sich daraus ableitenden szenischen Erfordernissen. Wüßte um die Todsünde, in Solo-Szenen nicht durch Bühnenaktion vom Zentrum abzulenken. Gestünde der Musik, dem Gesang, oberste Priorität zu. So aber … — So aber müssen sich die Sänger andauernd bewegen, um im Raum an derselben Stelle zu bleiben; sind dazu verdammt, den Schrittrhythmus von der musikalische Gestaltung zu entkoppeln, immer auf’s Neue zu kalibrieren. Wie sollen da, in der heute allgemein vorherrschenden Beschränktheit gesanglicher Mittel, musikalische Höchstleistungen entstehen?

Die Idee, sich immer wieder für eine » Auftritte « — die es im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gab — aus einer Masse ebenfalls schwarz Gekleideter (den SEAD-Mitgliedern) zu lösen, mag in der Konzeptionsphase bestechend geklungen haben. In der Praxis erwies sie sich als untauglich, da sie zu Gleichförmigkeit führte und bei vielen im Publikum zu Langeweile und Überforderung. Außerdem knarrten die Scheiben, darauf sich die Szene beschränkte, bei jeder Bewegung im Raum; störten die musikalische Darbietung. (Beim Konzeptionsgespräch taten sie das nicht.) Da der Spielvogt — siehe oben — diese Art der Bühnengestaltung perpetuiert, bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder waren die Werkstätten der Salzburger Festspiele nicht in der Lage, sich geräuschlos bewegende Elemente zu fertigen, oder der Spielvogt nahm die Störgeräusche, sie von vorherigen Produktionen kennend, in Kauf. Beides: für die Verantwortlichen kein Ruhmesblatt.

Die Idee, Maria Stuarda in Weiß, Elisabetta und alle anderen in Schwarz zu kleiden (Kostüme: Sara Schwartz): an Originalität kaum zu überbieten. Einzig im Finale des zweiten Aktes wechselten die Maria begleitenden Tänzer von SEAD in kurze Hosen, bot rot beleuchteter Trockennebel farbigen Akzent.

Die Idee, all das Schwarzweiß auf der Bühne mit einer dritten, vom Schnürboden hängenden und ebenfalls in alle Richtungen verstellbaren Scheibe entweder mit Videos zu bespielen oder farblich einzufärben: Sie wirkten so uninteressant und -inspiriert wie des Spielvogtes vor Wiederverwertung strotzende Inszenierung.

Die Idee, Elisabetta und Maria Stuarda räumlich voneinander zu trennen, wenn doch deren Zusammentreffen, das Finale des ersten Aktes, den Höhepunkt der Oper markiert: Sie verbietet sich nach dem Studium der Partitur. Denn im Grunde eint beide, was in dieser Szene offenbart wird: der Kampf um Englands Thron. Elisabetta hat ihn, Maria begehrt ihn. Bei Schiller und in der Wiener Staatsopernproduktion umschleichen sich die beiden wie Katzen auf einem heißen Blechdach. In Salzburg nicht. Doch die vom Spielvogt ersonnene und mit allerlei rationalen Argumenten begründete räumliche Trennung verhindert die Wechsel von Roberto, Conte di Leicester, zwischen den Fronten: die eine beschwichtigend, die andere lockend. Sie hindert Lord Guglielmo Cecil, sich Roberto in den Weg zu stellen. Und sie verunmöglicht den zügellosen musikalischen Rausch des finalen Ensembles.

Ulrich Rasche ist kein Opernregisseur. (Das ist es.)

V.
Bleibt Donizettis Musik. Während man seit der Wiederentdeckung 1958 die Napoli-Fassung von 1865 spielte, setzte sich ab den 1990-er Jahren die kritisch editierte von 1834 mit der Übernahme des Duetts im ersten Akt zwischen Maria Stuarda und Roberto, Conte di Leicester, aus Buondelmonte durch.

Antonello Manacorda, seit Beginn der Direktion Roščić auch in Wien beschäftigt, waltete ohne Fortune am Pult der Wiener Philharmoniker. Das Orchester klang nobel, die einzelnen Stimmen gut durchhörbar, die Soli akkurat. Die Empfindung, dieses Werk wäre den Wiener Philharmonikern eine Herzensangelegenheit, wollte sich jedoch nicht einstellen. (Wie überhaupt in Wien das Interesse an einer über ordentliches Musizieren hinausgehenden Wiedergabe von Werken des italienischen Repertoires stark nachgelassen hat. Das mag durchaus auch mit den engagierten Dirigenten zu tun haben.)

Noch in der dritten Vorstellung hörte ich Abstimmungs- und Balance-Probleme zwischen Graben und Bühne, deckten Dirigent und Orchester die Sänger — nicht nur, aber auch in den Ensembles — immer wieder zu. Der musikalischen Wiedergabe gebrach es an Italianità: zu brav, zu vorhersagbar waberte manche cabaletta durch das Große Festspielhaus. Wenig glaubhaft, es handle sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Die Stringenz eines Abends erwächst nicht aus der Wahl des absoluten Tempos, sondern aus der Phrasierung, der dynamischen Abstufungen und der Fähigkeit, wissend um die Tücken dieses Repertoires mit den Sängern zu arbeiten. An besagtem Abend waren Chor und Orchester in der ersten Szene soweit auseinander, daß man in einer Probe abgeklopft und neu begonnen hätte.

Dirigentische Alltagskost zu Festspielpreisen — und niemanden geniert’s …

VI.
Vergleicht man das Gehörte mit älteren, vor allem Live-Aufnahmen, kann man nicht umhin festzustellen, daß alle für die Salzburger Produktion engagierten Stimmen für die ihnen zugewiesenen Partien zu klein sind. Wer zweifelt, höre sich Mitschnitte vom Maggio Musicale Fiorentino (1967), aus San Francisco (1971) oder Wien (1986) an. Von solchem vokalen Glanz konnte man in diesem Salzburger Sommer nur träumen.

Dabei war der Roberto, Conte di Leicester, von Bekhzod Davronov auf der Habenseite zu buchen. Der gebürtige Ukrainer verfügt über einen ausreichend großen, allerdings noch nicht gezähmten Tenor. Die Stimme ist über den gesamten Umfang gut geführt. Davronov kommt ohne jenen mit fake-piano gesäuselten oder quäkenden Klang für die Spitzentöne aus, welchen (zu-)viele seiner — auch gefeierten — Kollegen einzusetzen gezwungen sind. Noch fehlt es ihm jedoch an Erfahrung, seine Kräfte einzuteilen. Deshalb mischten sich mit Fortdauer des Abends immer wieder gestemmte Passagen in die gesangliche Linie. Auch an den Ensemble- und stretta-artigen Szenen, welche Akkuratesse und Attacke in der oberen Mittellage sowie exakten Rhythmus verlangen, wird noch zu arbeiten sein.

VII.
Der zweite Lichtblick des Abends (wenngleich mit Abstrichen): die Maria Stuarda der Lisette Oropesa. Die U.S.-Amerikanerin weiß um die Anforderungen des bel canto. Allerdings sang sie mit » luftigen « Ton, weshalb sie immer wieder die Gesangslinie vorzeitig unterbrechen mußte. Kein unendlicher Atem. (Ich sagte dies bereits.)

Die Spitzentöne absolvierte diese Maria Stuarda mit hohem Kehlkopf; — eine Technik, die Oropesa als legitim darstellt, welche allerdings (nicht nur) meines Erachtens nach zu Verspannungen im Kehlkopf führt. Letztere waren denn auch nicht zu überhören. In der Terz oberhalb des passaggio und im unteren Register — die Partie geht vom tiefen Sopran-› a ‹ bis zum hohen Sopran-› c ‹ — fehlte es mit dem Fortschreiten der Vorstellung zunehmend an der notwendigen Stamina und damit dem Durchhaltevermögen.

Mißt man mit heutigem Maß, zählt Lisette Oropesa zweifellos zur Weltspitze. Ordnet man ihre Leistung ein in der Geschichte des Operngesangs bzw. des bel canto, wird jeder Stimmenkundige anderen Rolleninterpretinnen den Vorzug geben: Leyla Gencer für die Kompaktheit des Tons über den gesamten Stimmumfang, Mara Zampieri für die Dramatik und den beherzten Zugriff auf die untere Stimmfamilie, Montserrat Caballé und, nicht zu vergessen, Joan Sutherland für ihre ausgefeilten, jedoch tragenden piani und ihre Gesangskultur.
Das Bessere ist eben immer des Guten Feind.

VIII.
Kate Lindsey bot als Elisabetta nicht die erhoffte Überraschung. Nach durchaus ordentlichem Beginn zeigte bereits die cabaletta in der Szene mit Roberto die allzu engen Grenzen ihres Instrumentes auf: kraftlos in der Attacke, ohne Glanz und Kern. (Auch im Westen nichts Neues.) Lindsey sang oft mit weit geöffnetem Mund. Wieder hörte ich Vokalverschiebungen sonder zahl. Die Konsequenz: fortgesetzte Textundeutlichkeit, keine Phrasierung; von den im bel canto üblichen fiorituri ganz zu schweigen. Da nützte es wenig, daß sie, rank und schlank und in der Rolle der Elisabetta ganz in Schwarz gekleidet, gute Figur machte. Wenig glaubhaft, daß es für dies Partie keine bessere, Festspielpreise rechtfertigende Besetzung gibt.

IX.
Nino Gotoshia war eine rollendeckende Anna Kennedy. Das kann von ihrem Kollegen Aleksei Kulagin als Giorgio Talbot nicht berichtet werden: Dessen Instrument ist in Umfang und Größe zu klein; klang kraftlos und uniform. Da hinterließ der Lord Guglielmo Cecil des Thomas Lehman einen besseren Eindruck — Einzug ins kollektive Langzeitgedächtnis hielten alle drei freilich nicht.

X.
Wie es wohl wäre, zwänge eines Publikums und einer Kritik bleierne Hand die Verantwortlichen zur Lieferung von Festspielwürdigem?

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